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- Gekündigte Betriebsratswahlinitiatorin: Arbeitsgericht lehnt dreifach erfolgte außerordentliche Kündigungen ab
Die Mitglieder des Wahlvorstands einer Betriebsratswahl genießen besonderen Kündigungsschutz. Ignoriert der Arbeitgeber diesen Sonderkündigungsschutz, können betroffene Arbeitnehmer dagegen klagen. Im folgenden Fall des Arbeitsgerichts Düsseldorf (ArbG) konnte eine entsprechende Kündigungsschutzklage gleich dreifach punkten.
Der Arbeitgeber hatte der klagenden Beschäftigten dreimal erfolglos außerordentlich gekündigt. Mitte August hatte die Arbeitnehmerin gemeinsam mit zwei Kolleginnen zu einer Betriebsversammlung eingeladen. Ziel der Versammlung war es, einen Wahlvorstand für eine Betriebsratswahl zu wählen. Der Arbeitgeber kündigte daraufhin der Arbeitnehmerin fristlos, hilfsweise fristgerecht wegen wiederholten Zuspätkommens trotz einschlägiger Abmahnung. Die Beschäftigte wehrte sich mit einer Kündigungsschutzklage.
Das ArbG hielt die fristlose Klage für unwirksam, da Verspätungen grundsätzlich keine fristlose Kündigung rechtfertigen. Das Gericht entschied zudem, dass die hilfsweise ausgesprochene fristgemäße Kündigung ebenso unwirksam war, weil die Arbeitnehmerin als Initiatorin der Betriebsratswahl besonderen Kündigungsschutz genießt.
Zu der Betriebsversammlung, in der der Wahlvorstand gewählt werden sollte, erschienen rund 15 Beschäftigte. Sie passten allerdings wegen der Corona-Vorschriften nicht alle in den zu diesem Zweck gemieteten Raum. Der Arbeitgeber hatte zwar kurzfristig andere Räume angeboten - die Arbeitnehmerin lehnte dieses Angebot jedoch ab, so dass die Betriebsversammlung deshalb nicht stattfand. Deshalb erhielt die Arbeitnehmerin eine weitere Kündigung. Und auch diese Kündigung scheiterte vor dem ArbG, da der Arbeitgeber keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die behaupteten Absichten der Arbeitnehmerin vorbringen konnte. Dann kam die dritte Kündigung wegen eines Verstoßes gegen ein Hausverbot. Im Dezember hängte die später erneut gekündigte Beschäftigte ohne vorherige Absprache mit dem Arbeitgeber im Backoffice der Filiale eine neue Einladung zu einer Wahlversammlung aus. Hierauf reagierte der Arbeitgeber erneut mit einer fristlosen Kündigung. Diese begründete er damit, dass die Arbeitnehmerin ein Hausverbot missachtet und einen Hausfriedensbruch begangen habe. Auch diese Kündigung scheiterte. Das Gericht ging zwar von einer Verletzung des Hausrechts aus, die jedoch nicht so schwerwiegend war, dass eine fristlose Kündigung gerechtfertigt gewesen wäre. Mit einer Abmahnung wäre das Verhalten vielmehr ausreichend sanktioniert worden.
Hinweis: Gegen eine Kündigung muss zwingend binnen drei Wochen eine Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht eingelegt werden. Wird die Frist verpasst, beendet die Kündigung in den allermeisten Fällen das Arbeitsverhältnis.
Quelle: ArbG Düsseldorf, Urt. v. 23.02.2022 - 10 Ca 4119/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Gleichbehandlungsfrage: EuGH muss selbstbestimmte Teilhabe mit Gleichbehandlungsgrundsätzen im Arbeitsrecht abwägen
Dieser Fall zeigt sehr schön, dass sich Diskriminierungsschutz und Behindertenschutz widersprechen können. Das hier mit einem Urteil beauftragte Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Zwickmühle nun an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergeleitet. Und dieser muss jetzt darüber befinden, was mehr zählt: die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nach Vorgaben der Vereinten Nationen oder die Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), die es Arbeitgebern untersagt, Bewerber ihres Alters wegen zu benachteiligen.
Mit einem Stellenangebot suchte ein Assistenzdienst eine Mitarbeiterin. Der Assistenzdienst bot Menschen mit Behinderungen Beratung, Unterstützung sowie Assistenzleistungen in verschiedenen Bereichen an. Der Assistenzdienst suchte "weibliche Assistentinnen" in allen Lebensbereichen des Alltags, die "am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein" sollten. Assistenzleistungen werden für Menschen mit Behinderungen nach § 78 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags. Eine 1968 geborene Frau bewarb sich auf die Stellenausschreibung - erfolglos. Als sie nicht genommen wurde, verklagte sie den Assistenzdienst auf Zahlung einer Entschädigung. Sie hat die Auffassung vertreten, der Assistenzdienst habe sie im Bewerbungsverfahren entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihres Alters benachteiligt und sei ihr deshalb nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter "zwischen 18 und 30" Jahren gerichtete Stellenausschreibung begründe die Vermutung, dass sie bei der Stellenbesetzung wegen ihres höheren Alters nicht berücksichtigt und damit wegen ihres Alters diskriminiert worden sei. Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei bei Leistungen der Assistenz nach § 78 SGB IX unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.
Das BAG meinte, den EuGH zu der Frage anhören zu müssen. Der EuGH soll die folgende Frage beantworten: Kann nach den EU-Richtlinien und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie nach Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt sein?
Denn der Assistenzdienst sah die Sache anders als die Bewerberin. Er meinte, eine Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nach dem AGG gerechtfertigt. Bei der Beurteilung einer etwaigen Rechtfertigung seien nicht nur die Bestimmungen des Übereinkommens der UN-BRK zu berücksichtigen. Vielmehr sei es auch so, dass die eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmenden Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX ein Wunsch- und Wahlrecht auch im Hinblick auf das Alter der Assistenten/innen hätten. Nur so sei eine selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
Hinweis: Die Antwort des EuGH bleibt abzuwarten. Es kann durchaus nachvollzogen werden, dass für eine Arbeitsassistenz ein bestimmtes Alter erforderlich sein kann. Dabei wird es sicherlich - wie so oft - auf den jeweiligen Einzelfall ankommen.
Quelle: BAG, Beschl. v. 24.02.2022 - 8 AZR 208/21 (A)(aus: Ausgabe 05/2022)
- Nur bei Unverhältnismäßigkeit: EuGH konkretisiert Bedingungen zur Probezeitkündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer
Der besondere Schutz schwerbehinderter Arbeitnehmer sieht vor, dass diesen nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses nur noch mit behördlicher Zustimmung gekündigt werden kann. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) war nun mit der Frage betraut worden, ob und welcher Schutz für die ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses gilt.
Ein Arbeitgeber stellte einen neuen Facharbeiter ein. Kurz nachdem dieser seine neue Stelle angetreten hatte, wurden bei ihm so schwere Herzprobleme festgestellt, dass eine Beschäftigung auf dem ursprünglich für ihn vorgesehenen Arbeitsplatz unmöglich war. Der Arbeitgeber versetzte ihn deshalb noch innerhalb der Probezeit auf einen anderen Arbeitsplatz, wo er als Lagerist arbeitete. Allerdings erschien dem Arbeitgeber die Beschäftigung auf dem Ersatzarbeitsplatz offensichtlich auch zu unsicher. Er sprach deshalb rechtzeitig eine Probezeitkündigung aus und begründete diese damit, dass eine Weiterbeschäftigung auf dem geschuldeten Arbeitsplatz aufgrund der Behinderung unmöglich erscheine. Der Mitarbeiter wehrte sich gegen die Kündigung und klagte bis zum EuGH.
Der EuGH entschied, dass dem Arbeitnehmer zu Unrecht gekündigt worden war. Arbeitgeber müssen geeignete und im konkreten Fall erforderliche Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz käme nur in Betracht, wenn die Maßnahmen einen Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten würden. Der Arbeitgeber muss einen Arbeitsplatz deshalb so einrichten, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer seine Arbeit ausführen kann. Die Richter wiesen zudem darauf hin, dass ein Arbeitgeber verpflichtet werden könne, einen Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen, wenn dieser aufgrund einer entstandenen Schwerbehinderung seine ursprüngliche Tätigkeit langfristig nicht mehr ausüben könne.
Hinweis: Schwerbehinderte oder gleichgestellte Arbeitnehmer haben nach dieser Entscheidung des EuGH wesentlich bessere Karten, gegen eine Probezeitkündigung vorzugehen. Wie die Erfolgsaussichten im Einzelfall sind, kann ein Rechtsanwalt beurteilen. Arbeitgeber sollten sich in jedem Fall bei der Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters zuvor beraten lassen.
Quelle: EuGH, Urt. v. 10.02.2022 - C-485/20(aus: Ausgabe 05/2022)
- Unterschrift ohne Bedenkzeit: Keine Pflichtverletzung, wenn Aufhebungsvertrag von sofortiger Annahme des Angebots abhängt
Wird Arbeitnehmern ein Aufhebungsvertrag vorgelegt mit der Aufforderung, ihn sofort zu unterschreiben, ist das häufig nicht in Ordnung. Doch wer sich dagegen nicht unmittelbar wehrt und dennoch unterschreibt, dem kann auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Ende wenig weiterhelfen.
Eine Arbeitnehmerin war als Teamkoordinatorin im Verkaufsbereich einer Arbeitgeberin tätig. Ihr wurde vorgeworfen, sie habe unberechtigt Einkaufspreise in der EDV abgeändert und reduziert, um somit einen höheren Verkaufsgewinn vorzuspiegeln. Der Geschäftsführer der Arbeitgeberin und deren Anwalt führten mit der Arbeitnehmerin ein Gespräch und trugen die entsprechenden Vorwürfe vor. Schließlich unterzeichnete die Arbeitnehmerin nach einer zehnminütigen Pause, in der die drei Anwesenden stillschweigend am Tisch saßen, den von der Arbeitgeberin vorbereiteten Aufhebungsvertrag. Die Arbeitnehmerin hat später den Aufhebungsvertrag wegen einer widerrechtlichen Drohung angefochten und machte den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geltend. Dabei behauptete sie, ihr seien für den Fall der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrags eine fristlose Kündigung und eine Strafanzeige angedroht worden. Außerdem wäre ihrer Bitte für eine längere Bedenkzeit nicht entsprochen worden.
Das BAG entschied jedoch, dass der Aufhebungsvertrag wirksam war. Selbst wenn es so gewesen wäre, wie die Arbeitnehmerin behauptete, fehlte es an der Widerrechtlichkeit der behaupteten Drohung. Ein verständiger Arbeitgeber dürfe durchaus sowohl eine außerordentliche fristlose Kündigung als auch die Erstattung einer Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen. Das gelte sogar für diesen Fall, in dem der Arbeitnehmerin weder eine Bedenkzeit verbleibe noch sie weiteren Rechtsrat einholen könne.
Hinweis: Arbeitnehmer sollten sich also vor der Unterschrift unter einen Aufhebungsvertrag nicht unter Druck setzen lassen. Egal, wie der Arbeitgeber auch reagiert, eine Unterschrift sollte erst nach dem Einholen weiteren Rechtsrats erfolgen.
Quelle: BAG, Urt. v. 24.02.2022 - 6 AZR 333/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Unwirksame Betriebsratswahl: Keine Briefwahlpflicht für unmittelbar an umzäuntes Werksgelände angrenzende Betriebsstätten
Dass auch bei großen Industrieunternehmen eine Betriebsratswahl in die Hose gehen kann, mag die einen trösten und andere entrüsten. Doch das Urteil des mit dem folgenden Fall betrauten Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist durchaus beispielhaft, sollte einmal mehr die Frage anstehen, was "räumlich weit vom Hauptbetrieb" bedeutet, wenn ein Betriebsrat aufgrund der Entfernung Briefwahl anordnen möchte.
Ein großer Automobilkonzern betrieb ein Werk zur Herstellung von Nutzfahrzeugen. Das mehrere Hektar große Werksgelände war von einem geschlossenen Werkszaun umgeben, der Zugang erfolgte durch vom Werkschutz kontrollierte Tore. Außerhalb des umzäunten Geländes befanden sich weitere Betriebsstätten, die dem Hauptwerk organisatorisch zugeordnet waren und von dem dort gewählten Betriebsrat vertreten wurden. Für die Betriebsratswahl war ein Wahlvorstand gewählt worden, der nun Folgendes entschieden hatte: Es sollte für die Arbeitnehmer sämtlicher außerhalb des geschlossenen Werksgeländes liegender Betriebsstätten ausschließlich die schriftliche Stimmabgabe erfolgen, der Betriebsrat sollte also per Briefwahl gewählt werden. Drei der davon betroffenen Betriebsstätten liegen unmittelbar angrenzend an das umzäunte Werksgelände. Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses hatten neun wahlberechtigte Arbeitnehmer die Wahl angefochten. Sie meinten, die Briefwahl hätte nicht für sämtliche außerhalb des geschlossenen Werksgeländes liegende Betriebsstätten beschlossen werden dürfen.
Das BAG erklärte die Betriebsratswahlen für unwirksam. Der Wahlvorstand kann zwar die schriftliche Stimmabgabe für räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernte Betriebsteile und Kleinstbetriebe beschließen (§ 24 Abs. 3 der Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz). Hier war der Wahlvorstand jedoch zu Unrecht davon ausgegangen, dass diese Voraussetzung auch bei den drei unmittelbar an das umzäunte Werksgelände angrenzenden Betriebsstätten erfüllt war - selbst unter Berücksichtigung eines ihm zustehenden Beurteilungsspielraums. Die Wahl war daher zu Recht anfechtbar, da dieser Fehler geeignet sei, das Wahlergebnis zu beeinflussen.
Hinweis: Die Regelungen zur Wahl eines Betriebsrats finden Sie im Betriebsverfassungsgesetz und in der dazugehörigen Wahlordnung. Ganz einfach sind die Regelungen nicht zu verstehen - insbesondere, wenn Wahlen in größeren Unternehmen anstehen. Die entsprechenden Wahlvorstände haben allerdings das Recht, sich rechtlich beraten zu lassen und gegebenenfalls auch entsprechende Schulungen zu besuchen.
Quelle: BAG, Beschl. v. 16.03.2022 - 7 ABR 29/20(aus: Ausgabe 05/2022)
- Besonderheit bei Erbverträgen: Gericht bestätigt Anspruch auf Rückgabe eines notariellen Testaments aus der amtlichen Verwahrung
Letztwillige Verfügungen von Todes wegen können zur Sicherheit in eine besondere amtliche Verwahrung gegeben werden. Sobald diese in amtliche Verwahrung genommene Urkunde dem Erblasser zurückgegeben wird, gilt ein notarielles oder handschriftliches Testament als widerrufen. Für Erbverträge gilt die Besonderheit, dass diese nur aus der amtlichen oder notariellen Verwahrung genommen und zurückgegeben werden können, wenn diese Urkunde ausschließlich Verfügungen von Todes wegen enthält.
In dem hier behandelten Verfahren, das das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) zu entscheiden hatte, ging es um die Frage, ob diese einschränkende Vorschrift über Erbverträge auch auf ein gemeinschaftliches notarielles Testament angewendet werden kann, das neben der letztwilligen Verfügung von Todes wegen zugleich auch einen Ehevertrag sowie einen Pflichtteilsverzicht enthielt.
Eheleute hatten ein gemeinschaftliches notarielles Testament errichtet, das in einer Urkunde gleichzeitig auch einen Ehevertrag sowie eine Pflichtteilsverzichtsregelung enthielt. Beide Eheleute verlangten die Rückgabe dieser notariellen Urkunde aus der gerichtlichen Verwahrung des Nachlassgerichts. Dieses lehnte die Rückgabe zunächst ab. Das OLG gab den Eheleuten im Ergebnis jedoch recht und wies insbesondere darauf hin, dass die Regelung für Erbverträge auf ein öffentliches gemeinschaftliches Testament nicht anzuwenden ist.
Hinweis: Beabsichtigen Eheleute, eine letztwillige Verfügung von Todes wegen zu treffen, die in eine amtliche Verwahrung genommen werden soll, sollte eine gleichzeitig beabsichtigte ehevertragliche Regelung in einer hiervon getrennten Urkunde beurkundet werden.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.02.2022 - 14 W 6/22(aus: Ausgabe 05/2022)
- Die entscheidende Verzichtserklärung: Beantragung eines quotenlosen Erbscheins muss von allen Erben getragen werden
Da der Erbschein ein Nachweis für die Erbenstellung ist, sieht das Gesetz vor, dass ein für unrichtig erklärter Erbschein eingezogen werden muss. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Unrichtigkeit schon bei Erteilung des Erbscheins vorlag oder erst nachträglich eingetreten ist. Im folgenden Fall musste das Oberlandesgericht Frankfurt (OLG) über den Einzug eines Erbscheins ohne Quotenangaben befinden.
Nachdem der längstlebende Ehegatte verstorben war, hatten die aufgrund eines handschriftlichen Testaments eingesetzten Miterben einen gemeinschaftlichen Erbschein ohne Angabe von Erbquoten beantragt, den das Nachlassgericht in der Folge auch erteilte. Von den insgesamt drei Miterben hatten lediglich zwei eine ausdrückliche Erklärung abgegeben, dass sie auf die Aufnahme von Erbquoten verzichten. Die weitere Miterbin hat trotz Aufforderung durch das Gericht eine solche Erklärung nicht abgegeben.
Das OLG kam in einem solchen Fall zu dem Ergebnis, dass der so erteilte Erbschein an einem gravierenden Verfahrensfehler leidet, der zur Unrichtigkeit und damit auch zur Einziehung des Erbscheins führte. Das Gesetz sieht vor, dass grundsätzlich in einem gemeinschaftlichen Erbschein die Erben und ihre Erbteile anzugeben sind. Eine solche Angabe ist nur dann nicht erforderlich, wenn alle Antragsteller in dem Antrag auf die Aufnahme der Erbteile in dem Erbschein verzichten. Fehlt auch nur bei einem der Miterben eine solche Verzichtserklärung, ist der Erbschein unrichtig und einzuziehen.
Hinweis: Ein zunächst quotenloser Erbschein wird nicht dadurch unrichtig, dass die Quoten erst zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt werden. In einem solchen Fall ist eine Einziehung unzulässig.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 10.03.2022 - 21 W 175/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Erbeinsetzung oder Vermächtnisanordnung? Einstige Vorstellung des Erblassers über die Zusammensetzung des Nachlasses ist mitentscheidend
Ob man zum Erben oder Nachlassempfänger wird, ist auch bezüglich der mit dem jeweiligen Status verbundenen Verpflichtungen nicht unerheblich. Im folgenden Fall musste das Oberlandesgericht Rostock (OLG) entscheiden, ob der Wert eines zugewandten einzelnen Gegenstands - hier eine Immobilie - allein schon darüber entscheidet, dass der Empfänger zum Erben wird, wenn der restliche Nachlass nicht an den Gegenstandswert heranreicht.
Der Erblasser hatte im Jahr 1987 mit seiner Ehefrau ein gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sich beide gegenseitig zu Alleinerben einsetzten. Nach dem Tod des Längstlebenden war verfügt worden, dass ein im Eigentum der Eheleute stehendes Hausgrundstück an den Antragsteller im späteren Erbscheinsverfahren übergehen sollte. Das Haus hatte in etwa einen Wert von 200.000 EUR, der restliche Nachlass einen Wert von ca. 61.000 EUR. In der Folge stritten sich der Empfänger der zugewendeten Immobilie sowie die gesetzliche Erbin darum, wer Erbe nach dem Längstlebenden geworden sei.
Das OLG kam - anders als das Nachlassgericht - zu dem Ergebnis, dass der Zuwendungsempfänger des Hauses nicht Erbe nach dem Längstlebenden geworden ist. Hierbei hat das Gericht die Zweifelsregelung angewendet, dass bei der Zuwendung eines einzelnen Gegenstands eben nicht von einer Erbeinsetzung, sondern von einer Vermächtnisanordnung auszugehen ist. Der Umstand, dass es sich um das wesentliche Vermögen des Erblassers handelt, führt nicht zwangsläufig dazu, dass es sich um eine Erbeinsetzung gehandelt hat. Zu prüfen ist immer, wovon der Erblasser zum Zeitpunkt der Errichtung des Testaments in seinen Vorstellungen über die Zusammensetzung seines Nachlasses und den Wert der Gegenstände ausgegangen ist. Hierbei trifft denjenigen, der sich auf die Erbenstellung beruft, die Beweislast dafür, dass der zugewandte Gegenstand praktisch das gesamte Vermögen des Erblassers ausgemacht hat. Sofern dieser Nachweis geführt werden kann, ist dies ein starkes - wenngleich nicht zwingendes - Indiz dafür, dass der Erblasser dem Bedachten Rechte einräumen wollte, die nur einem Erben zugutekommen können. Diesen Nachweis, dass bei Testamentserrichtung kein wesentliches anderes Vermögen der Eheleute vorhanden gewesen war, konnte der Antragsteller hier aber nicht erbringen.
Hinweis: Ein Indiz, das beispielsweise die Stellung als Erbe entkräften kann, ist, wenn sich aus der Verfügung ergibt, dass der Bedachte nicht für Nachlassverbindlichkeiten, für Beerdigungskosten oder die Grabpflege aufkommen muss. Dies sind typische Verpflichtungen, die einen Erben treffen.
Quelle: OLG Rostock, Beschl. v. 08.02.2022 - 3 W 143/20(aus: Ausgabe 05/2022)
- Erbschaftsausschlagung nur "offline": Fristgerechte Anfechtung nur in beglaubigter Form und als Originalurkunde möglich
Möchte der Erbe die Erbschaft nicht annehmen, kann er dies durch eine Ausschlagung der Erbschaft erreichen - innerhalb von sechs Wochen ab Kenntnisnahme über den Erbfall. Zudem besteht die Möglichkeit, eine bereits erfolgte Ausschlagung durch eine Anfechtungserklärung innerhalb derselben Fristsetzung zu beseitigen. Das Oberlandesgericht Bamberg (OLG) musste in einem solchen Fall nun klarstellen, dass im Erbrecht nicht nur vom Erblasser bei Testamentserstellung, sondern auch von Erben unverzichtbare Formvorschriften unbedingt einzuhalten sind.
Der im Jahr 2000 verstorbene Erblasser hinterließ zwei Geschwister als Abkömmlinge, die innerhalb der dafür vorgesehenen Frist die Erbschaft nach dem verstorbenen Bruder zunächst formgerecht ausgeschlagen haben. In der Folge hatte das Nachlassgericht dann zum Zweck der Erbenermittlung eine Nachlasspflegschaft angeordnet. Als die Geschwister Kenntnis davon erlangten, dass der Nachlass entgegen ihrer ursprünglichen Annahme werthaltig war, ließen sie eine notariell beglaubigte Anfechtungserklärung erstellen. Diese wurde innerhalb der Sechswochenfrist auf elektronischem Weg über das sogenannte besondere elektronische Anwaltspostfach von der beauftragten Rechtsanwältin der Erben an das Nachlassgericht übersendet. Das ebenfalls im Original übersandte Schriftstück ging bei Gericht erst nach Ablauf der Frist ein.
Das OLG kam im konkreten Fall jedoch zu dem Ergebnis, dass die Anfechtung der Erbschaftsausschlagung nicht fristgerecht erfolgt sei. Das Gesetz sieht vor, dass die Anfechtungserklärung zur Niederschrift des Nachlassgerichts in einer öffentlich beglaubigten Form abzugeben ist. Die Erben hatten durch die notarielle Beglaubigung die öffentliche Form zwar zunächst gewahrt. Da die Anfechtung der Ausschlagung gegenüber dem Nachlassgericht zu erklären ist, erfordert eine fristgerechte Einreichung nach Ansicht des OLG aber auch, dass die in öffentlich beglaubigter Form abgegebene Erklärung in der Originalurkunde bei Gericht eingeht. Dies war im vorliegenden Fall nicht gegeben, da mit der Übersendung in elektronischer Form eben nicht das Original fristgerecht bei Gericht eingegangen ist.
Hinweis: Trotz mittlerweile vielfältiger Möglichkeiten zur elektronischen Kommunikation ist gerade im Zusammenhang mit der Einhaltung von Fristen gegenüber dem Gericht darauf zu achten, ob die elektronische Übermittlung ein zulässiges Mittel der Kommunikation ist.
Quelle: OLG Bamberg, Beschl. v. 21.03.2022 - 2 W 35/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Während des Verfahrens verstorben: Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erlischt mit dem Tod des Berechtigten
Einer nichtvermögenden Partei kann Prozesskostenhilfe - im Familienrecht auch Verfahrenskostenhilfe genannt - gewährt werden, wenn sie aufgrund ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht dazu in der Lage ist, einen Rechtsstreit aus eigenen Mitteln zu führen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG) musste nun darüber befinden, was mit der bewilligten Hilfe passiert, wenn der Kläger noch während des Verfahrens verstirbt: Ist der Anspruch vererbbar oder etwa nicht?
Der Kläger in einem Verfahren vor den Verwaltungsgerichten hatte am 17.05.2020 einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens gestellt. Am 22.07.2021 ist der Kläger während des noch laufenden Verfahrens verstorben.
Das OVG hat in dem anhängigen Rechtsmittelverfahren klargestellt, dass es sich bei dem Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe um ein höchstpersönliches Recht handelt, das allein an die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der antragstellenden Partei anknüpft. Aus dieser Personengebundenheit der Prozesskostenhilfe folgt, dass sowohl ein dahingehender Anspruch auf Bewilligung als auch eine gegebenenfalls bereits erfolgte Bewilligung mit dem Tod der Partei erlöschen und nicht vererblich sind.
Hinweis: Will ein Erbe, zumindest für den Fall, dass der im Streit stehende Anspruch selbst vererblich ist, das Verfahren fortführen, muss er einen eigenen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe stellen.
Quelle: OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.01.2022 - 9 A 1587/20(aus: Ausgabe 05/2022)
- Gesteigerte Erwerbsobliegenheit: Kindesunterhalt hat Vorrang vor Erstausbildung eines 45-jährigen Hilfsarbeiters
Die "gesteigerte Erwerbsobliegenheit" trifft jene Elternteile, die getrennt von ihren Kindern leben und ihnen Kindesunterhalt schulden. Wie sie ihre Arbeitskraft in welchem Maße einzusetzen haben, um dieser Pflicht möglichst nachzukommen, zeigt das folgende Urteil, das vom Oberlandesgericht Bamberg (OLG) kürzlich getroffen wurde.
Ein 45-jähriger Vater hatte keine Berufsausbildung und arbeitete als ungelernte Kraft bei einer Leiharbeitsfirma - nicht in Vollzeit und nur knapp über Mindestlohn. Sein tatsächliches Einkommen reichte somit nicht für den Kindesunterhalt. In der Beschwerdeinstanz trug er zudem vor, er werde eine Ausbildung zum Fachlageristen beginnen und dann nur noch eine monatliche Ausbildungsvergütung von 580 EUR erhalten.
Dennoch verurteilte ihn das OLG Bamberg zum Unterhalt für seine Kinder - und das aus fiktivem Einkommen. Das Gericht erläuterte dem Vater, dass er sich intensiv - also mit allen Kräften und unter Ausnutzung aller vorhandenen Möglichkeiten - um die Erlangung eines hinreichend entlohnten Arbeitsplatzes zu bemühen habe. Bis zur gesetzlich zulässigen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden müsse er Nebentätigkeiten aufnehmen. Weil er schon 45 Jahre alt sei und auch bisher immer nur als ungelernte Kraft gearbeitet hatte, habe sein eigener Anspruch auf eine berufliche Erstausbildung ausnahmsweise nicht Vorrang. Das OLG rechnete aus, was der Vater mit 48 Wochenstunden verdienen würde, zog neben berufsbedingten Benzinkosten auch Benzinkosten ab, die er für die Abholung der Kinder zu den Umgangswochenenden hatte. Übrig blieben fiktive 300 EUR für zwei Kinder.
Hinweis: Die alleinerziehende Mutter kann Unterhaltsvorschuss beim Jugendamt beantragen - das ergibt für sie bei zwei Kindern mehr als 300 EUR. Das Jugendamt kann beim Vater nicht aus fiktivem Einkommen Regress nehmen. Das Verfahren ergibt wirtschaftlich also nur dann Sinn, wenn die Mutter mit einem neuen Partner zusammen wohnt und deshalb keinen Unterhaltsvorschuss bekommen kann.
Quelle: OLG Bamberg, Beschl. v. 09.02.2022 - 7 UF 196/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Keine Vaterrechte nach Missbrauch: Jugendliche dürfen Auskunft über sich selbst verweigern
Wenn man für sein Kind das Sorgerecht und den persönlichen Kontakt verliert, dann bleibt nur noch ein Recht aus § 1686 Bürgerliches Gesetzbuch, vom anderen Elternteil über sein Kind informiert zu werden. Doch auch dieses Recht kann verwirkt werden, so wie im folgenden Fall des Oberlandesgerichts Bamberg (OLG).
Ein Vater wollte auf Basis des besagten Paragraphen ein aktuelles Foto seiner Kinder und die Zeugnisse der letzten fünf Jahre haben. Soweit verständlich - wenn man die Hintergründe nicht kennt, die zum Entzug des Sorgerechts und des persönlichen Kontakts führten. Denn in Fällen wie diesem hier kann sogar das Recht darauf verwirkt sein. Hier war der Vater nämlich wegen etlicher Fälle des sexuellen Missbrauchs und der Kinderpornographie verurteilt worden - eines der Opfer war sogar die eigene Tochter gewesen. Die Mutter befürchtete daher nun, dass der Vater die Informationen, auf welche Schule die Kinder gehen und wie sie aussehen, nur begehre, um die Kinder nach seiner Haftentlassung aufzuspüren.
Das OLG lehnte den Antrag des Vaters daher ab - auch gestützt auf den Willen der 14 und 17 Jahre alten Kinder. Diese hatten sich in der erfolgten Anhörung gewünscht, dass der Vater nichts von ihnen wissen und sie in Ruhe lassen solle. Auf keinen Fall solle er die Fotos und Zeugnisse erhalten. Es müsse reichen, ihm mitzuteilen, dass es ihnen gut gehe. Dieser autonome und objektiv nachvollziehbare Wille der Kinder wurde angesichts ihres Alters als Ausdruck der Selbstbestimmung gewertet - und es erschien dem OLG zwingend, die Kinder zu respektieren.
Hinweis: Der Wille eines Jugendlichen, der altersentsprechend geistig reif ist, wird in der Praxis nur dann übergangen, wenn er offensichtlich das eigene Wohl gefährdet. Eine feste Altersgrenze, ab der Kinder über ein Verfahren "entscheiden" können, gibt es dabei nicht.
Quelle: OLG Bamberg, Beschl. v. 14.03.2022 - 2 UF 28/22(aus: Ausgabe 05/2022)
- Mutmaßungen unzulässig: Vor Erteilung eines Umgangsausschlusses müssen Familiengerichte hohe Hürden nehmen
Besonders kleinen Kindern möchte man gerichtliche Anhörungen nachvollziehbarerweise gern ersparen. Dass in Familiensachen in den meisten Fällen jedoch kein Weg daran vorbeiführt, musste sich kürzlich das Amtsgericht Zweibrücken (AG) vom entsprechenden Oberlandesgericht Zweibrücken (OLG) sagen lassen.
Das AG hatte in einer Familiensache die Anhörung eines vierjährigen Kindes unterlassen, weil dieses bisher gar keinen Kontakt zum Vater hatte und sich das Gericht daher keine Erkenntnisse durch die Anhörung erhoffte.
Diese Vorwegnahme eines Ergebnisses war in Augen des OLG jedoch nicht zulässig. Nach dem Willen des Gesetzgebers muss ein Kind im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhalten, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen. Spätestens ab dem dritten Lebensjahr ist die Anhörung zwingend. Ebenso rügte das OLG, dass das AG den Umgang vorläufig für anderthalb Jahre ausschloss, weil der Vater in psychiatrischer Behandlung war. Ohne sachverständige Beratung zum Krankheitsbild und zu dessen Auswirkungen auf den Umgang durfte diese Entscheidung nicht getroffen werden. Außerdem hätte abgewogen werden müssen, ob eine Umgangsbegleitung möglich sei. Ein Umgangsausschluss darf stets nur das letzte Mittel sein. Somit verwies das OLG die Sache zur weiteren Aufklärung an das AG zurück.
Hinweis: Vielfach wird angenommen, dass die Eltern eine Kindesanhörung vermeiden können, wenn sie sich im Gerichtssaal einigen. Das geht aber nicht: Eine Einigung kann ohne Kindesanhörung nicht vom Familiengericht gebilligt werden. Im August 2021 ist die entsprechende gesetzliche Vorschrift nochmals strenger gefasst worden.
Quelle: OLG Zweibrücken, Urt. v. 20.01.2022 - 6 UF 132/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Pandemie kein Grund für Untätigkeit: Bei Trennung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft verjähren Ansprüche nach drei Jahren
Wenn nichteheliche Lebensgemeinschaften auseinandergehen, ist der Streit um Geld und Haus nicht unbedingt kleiner als mit Trauschein. Das beweist der folgende Fall des Oberlandesgericht Brandenburg (OLG), der gleichsam aufzeigt, dass eine Eheschließung durchaus auch für den Trennungsfall von Vorteil sein kann.
Im Jahr 1982 hatte sich das Paar verlobt und 1985 sowie 1996 seine beiden Kinder bekommen. Geheiratet hatte es trotz seines einstigen Eheversprechens jedoch nie. 1993 hatten beide Partner zudem das Elternhaus des Mannes gekauft, und die Frau wurde Alleineigentümerin, um das Haus bei einer etwaigen Insolvenz des selbständig tätigen Mannes zu schützen. Die Frau unterschrieb allein den Kreditvertrag, der Mann bürgte aber für die Schuld und zahlte als Hauptverdiener die Kreditraten ab. 2014 kam es schließlich zur Trennung - mit einem solchen Streit, dass der Mann über ein Gewaltschutzverfahren des Hauses verwiesen wurde. Ende 2017 ging der Mann seinerseits zu Gericht und verlangte auf diesem Weg allerhand Auskünfte von der Frau, um zu berechnen, was ihm aus dem Haus zustehe. Es dauerte dann noch bis Anfang April 2020, bis dem Mann für das beabsichtigte Verfahren Verfahrenskostenhilfe (VKH) bewilligt wurde. Dann tat sich - gegebenenfalls wegen Corona - bis Dezember 2020 nichts, erst dann reichte der Mann seinen Auskunftsantrag zwecks Zustellung an die Gegenseite bei Gericht ein. Die Frau berief sich nun daraufhin auf Verjährung - und das erfolgreich.
Das OLG bestätigte, dass die Verjährungsfrist für die geltend gemachten Ansprüche - hier denkbar aus Gesellschaftsrecht, Wegfall der Geschäftsgrundlage und ungerechtfertigter Bereicherung - drei Jahre beträgt. Sie beginnt am 31.12. des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist - in diesem Fall durch das Scheitern der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Ablauf des 31.12.2014 und Eintritt am 31.12.2017. Knapp davor hatte der Mann seinen ersten Antrag bei Gericht gestellt und damit die Verjährung erfolgreich gehemmt. Die Wirkung der Hemmung endete aber Anfang Oktober 2020, sechs Monate nach der abschließenden Entscheidung aus April 2020 über sein VKH-Gesuch (§ 204 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch). Die wenigen aus Dezember 2017 verbliebenen Verjährungstage liefen nun wieder an, und noch im Oktober 2020 trat die Verjährung endgültig ein. Sein Antrag aus Dezember 2020 konnte daher nichts mehr retten. Seine Rechtfertigung, er habe monatelang wegen der Corona-Pandemie keinen Kontakt zu seinem Rechtsanwalt gehabt, reichte dem OLG nicht als "triftiger Grund" für die Untätigkeit.
Hinweis: Unter Eheleuten beginnt die Verjährung erst mit der Scheidung zu laufen und ist bis dahin gehemmt. Die meisten der Ansprüche gegeneinander können im Scheidungsverbund geklärt werden. Eine Ehe hätte den Mann hier also vor einem solchen Rechtsverlust bewahrt, selbst wenn nach der Trennung jahrelang nichts unternommen worden wäre.
Quelle: OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.02.2022 - 9 UF 128/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Richterliches Ermessen: Verfahrensrecht sieht keinen Automatismus bei der Kostenverteilung in Familiensachen vor
Wenn man vor Gericht gewinnt, muss die Gegenseite die Kosten erstatten. Von diesem Grundsatz wird am Familiengericht oft abgewichen. Der folgende Fall, den das Oberlandesgericht Bremen (OLG) zu bewerten hatte, zeigt auf, warum das Fachgebiet in juristischen Familiensachen hier eine Ausnahme macht.
Die Eltern einer Zwölfjährigen waren sich uneins über deren COVID-19-Impfung gewesen. Der Vater wollte die Tochter impfen lassen und beantragte eine gerichtliche Entscheidung. Das Gericht klärte den Sachverhalt auf, hörte alle Beteiligten an - auch das Kind - und übertrug dem Vater die Alleinentscheidungsbefugnis über die Schutzimpfung. Die Kosten des Verfahrens sollten dann schließlich er und die Mutter je hälftig tragen. Dazu fehlte es dem Kindesvater an Einsicht. Er machte beim OLG geltend, dass das Verfahren notwendig gewesen sei, weil sich die Kindesmutter kategorisch der elterlichen Auseinandersetzung mit dem Thema verweigert habe und eine Haltung vertrete, die dem aktuellen Stand gängiger medizinischer Behandlung widerspreche. Die in der Sache getroffene Entscheidung folge in Gänze seinem Antrag. Es gehe seiner Ansicht nach nicht an, ihn für das unkommunikative Verhalten der Kindesmutter haftbar zu machen, indem er an den Kosten des Verfahrens beteiligt werde.
Sowohl die Vorinstanz als auch das OLG sahen das jedoch anders: Das Verfahrensrecht in Familiensachen sehe keinen Automatismus bei den Kosten vor, sondern eine Ermessensentscheidung. Es sei das gute Recht der Mutter gewesen, eine andere Position zur Frage der Impfung einzunehmen, ohne befürchten zu müssen, deshalb unter Umständen im Fall des Unterliegens bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung über dieses Thema stärker als der andere für die dadurch entstehenden Kosten herangezogen zu werden.
Hinweis: Dieser Grundsatz wird besonders teuer, wenn das Familiengericht Gutachten einholt. Schnell geht es da um fünfstellige Eurobeträge. Selbst wenn das Gutachten ergibt, dass der andere Elternteil sich fehlverhält oder gar erziehungsunfähig ist, zahlen in der Regel beide für diese Erkenntnis.
Quelle: OLG Bremen, Beschl. v. 09.02.2022 - 5 UF 5/22(aus: Ausgabe 05/2022)
- "Hausstrom" zu pauschal: Betriebskostenabrechnung darf keine intransparenten Mischpositionen enthalten
Welche Aufwendungen Vermieter über die Betriebskosten auf ihre Mieter abwälzen können, beschäftigt Mietrechtler und die Gerichte regelmäßig. Ob die Abrechnungsposition "Hausstrom" in einer Betriebskostenabrechnung umlegbar ist, musste das Amtsgericht Hamburg (AG) entscheiden.
Mieter und Vermieter des Falls stritten sich über eine Nachzahlung aus der Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2018 für eine gemietete Wohnung in Hamburg. Der Mieter hielt unter anderem die Abrechnungsposition "Hausstrom" für unzulässig. Der Vermieter sah dies anders und klagte die ihm aus seiner Sicht zustehenden Beträge ein.
Das AG war jedoch auf der Seite des Mieters: Die Abrechnungsposition "Hausstrom" sei in der Tat formell unwirksam. Denn nach § 2 Nr. 11 Betriebskostenverordnung seien nur Stromkosten für die Beleuchtung umlagefähig. Die Abrechnungsposition "Hausstrom" könne dagegen auch andere Kostenarten enthalten - wie etwa den Stromverbrauch einer Gemeinschaftsanlage oder sonstige Verbrauchsstellen. Sie stelle damit eine potentiell intransparente und damit unzulässige Mischposition dar, die insbesondere für den Mieter nicht prüffähig sei. Sie lässt nicht erkennen, auf welche Verbrauchsstellen die umgelegten Stromkosten entfallen.
Hinweis: Streitigkeiten über Nebenkostenabrechnungen gibt es viele. Wer im Vorfeld auf Nummer sicher gehen will, fragt den Fachanwalt seines Vertrauens um Rat.
Quelle: AG Hamburg, Urt. v. 03.03.2022 - 48 C 320/20(aus: Ausgabe 05/2022)
- Hochzeitsfeiern in Pandemiezeiten: BGH sieht kein Recht auf außerordentliche Kündigung, wenn Ersatztermine angeboten wurden
Schon jetzt blicken wir oft seufzend auf die Zeit der Corona-Pandemie, was wir alles hätten machen wollen und nicht tun durften. Besonders ärgerlich waren die restriktiven Bestimmungen auch für Hochzeitspaare, deren Pläne zum "schönsten Tag im Leben" gegen die Wand fuhren. So war es nur eine Frage der Zeit, bis es darum gehen sollte, wie es sich mit Rückzahlungsansprüchen Veranstaltern gegenüber verhält. Dazu musste der Bundesgerichtshof (BGH) heran.
Ein Ehepaar heiratete 2018 standesamtlich und hatte seine Feier für den 01.05.2020 mit 70 Gästen geplant. Es hatte Räumlichkeiten für 2.600 EUR angemietet, die es auch bezahlte. Dann kam die Pandemie, und die Hochzeitsfeier konnte nicht durchgeführt werden. Nach der damals geltenden Coronaschutzverordnung im Land Nordrhein-Westfalen waren zu dem Zeitpunkt Veranstaltungen im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen untersagt worden. Allerdings hatten die Vermieter den Eheleuten andere alternative Termine angeboten. Schließlich baten die Eheleute im April 2020 um Rückzahlung der geleisteten Miete und erklärten gleichzeitig den Rücktritt vom Vertrag. Schließlich verlangten sie gerichtlich die Rückzahlung.
Der BGH war jedoch der Auffassung, dass die Räumlichkeiten letzten Endes zur Verfügung standen. Eine Geschäftsschließung, die auf einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie erfolgte, stelle grundsätzlich keinen Mangel der Mietsache dar - deshalb gab es auch kein Recht auf Rücktritt oder zur außerordentlichen Kündigung für die Eheleute. Ebenso wenig kam eine Anpassung des Mietvertrags in Betracht, da die Vermieterin Ausweichtermine angeboten hatte.
Hinweis: Das Urteil wird dem Brautpaar nicht gefallen. Aber es war eben nicht nur das Brautpaar, das Einschränkungen wegen der Pandemie hinnehmen musste: Auch auf den Gaststättenbetreiber war bei der Gesamtschau Rücksicht zu nehmen.
Quelle: BGH, Urt. v. 02.03.2022 - XII ZR 36/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Ladenmiete in Corona-Zeiten: Für unrentable Gastwirtschaft gibt es keine Vertragsanpassung wegen pandemiebedingter Lockdowns
Durch die Corona-Lockdowns konnten viele Gewerbetreibende ihre Ladenmiete nicht mehr zahlen. In vielen Fällen war eine Vertragsanpassung auf etwa die halbe Miete in Betracht zu ziehen. Dass dies aber wie so oft eine Frage des Einzelfalls ist und nicht immer gilt, zeigt der folgende Fall des Amtsgerichts Köln (AG).
Der Beklagte - hauptberuflich im öffentlichen Dienst beschäftigt - war Betreiber einer Gaststätte in der Kölner Altstadt. Dort verdiente er ca. 2.000 EUR netto. Im Jahr 2019 hatte er keinen Gewinn erwirtschaftet, sondern musste vielmehr einen Verlust in Höhe von rund 7.000 EUR verbuchen. Dann kam Corona, und im sogenannten zweiten Lockdown von Anfang November 2020 bis Ende Juni 2021 musste der Mann das Ladenlokal schließen. Ein Außerhausbetrieb war nicht möglich, da es sich um eine reine Schankwirtschaft handelte. Auf Staatshilfen hatte der Mann keinen Anspruch, da er das Lokal nur im Nebenerwerb betrieb. Seiner Vermieterin teilte er dann im Februar 2021 mit, er werde nur noch ein Drittel der Nettomiete bezahlen. Diese wollte sich das nicht gefallen lassen und klagte die restlichen Mieten ein.
Das AG gab der Vermieterin Recht. In Fällen, in denen der Mieter einer gewerblichen Immobilie bereits vor der Corona-Pandemie mit seinem Betrieb keine Gewinne erzielt habe, erfolgt keine Vertragsanpassung nach § 313 Bürgerliches Gesetzbuch. Insoweit muss vermieden werden, dass Betriebe durch Subventionen künstlich am Leben erhalten werden, ohne die ihr Geschäft nicht überlebensfähig wäre. Es bestünde sonst die Gefahr, dass sogenannte "Zombieunternehmen" entstünden.
Hinweis: Jeder Fall ist in diesem Bereich tatsächlich anders. Lassen Sie sich von dem Rechtsanwalt Ihres Vertrauens beraten. Es existiert mittlerweile eine ganze Fülle an Rechtsprechung rund um die Folgen der Corona-Pandemie und diesbezügliche Verordnungen.
Quelle: AG Köln, Urt. v. 10.02.2022 - 221 C 248/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Nach anerkannter Klageforderung: Reicht der Vermieter zu früh Räumungsklage ein, trägt er die Verfahrenskosten allein
Zwischen Ausspruch einer Kündigung einer Mietwohnung und dem tatsächlichen Beendigungsdatum können mehrere Monate liegen. Ob ein Vermieter bereits im Vorfeld eine Räumungsklage einreichen kann, war im folgenden Fall vom Landgericht Rostock (LG) zu beantworten.
Da ein Vermieter eine vermietete Wohnung gerne für sich selbst nutzen wollte, kündigte er im Januar 2021 unter Angabe eines Eigenbedarfsgrunds den Mietvertrag. Die Mieter reagierten darauf wie folgt: "Sie wissen, wir wissen, dass Sie sich mit dieser Kündigung auf sehr, sehr dünnem Eis bewegen (...)." Anfang März antwortete der Vermieter darauf mit den Worten: "Wenn Sie mir binnen 10 Tagen ab heute eine von Ihnen beiden unterschriebene schriftliche Erklärung geben, in der Sie die Kündigung anerkennen und zusagen, die Wohnung zum 31.1.2022 zu räumen und an mich herauszugeben, werde ich Ihnen einen Umzugskostenbeitrag von 300 EUR bis spätestens zum 15.2.2022 zahlen. Darüber hinaus brauchen Sie die Wohnung nicht zu renovieren, die Übergabe muss nur geräumt und besenrein erfolgen." Darauf antworteten die Mieter nicht mehr. Anfang April 2021 legte der Vermieter daraufhin eine Räumungsklage ein. Die Mieter erkannten die Klageforderung an und erklärten sich zur Räumung bis Ende Januar 2022 bereit. Das Amtsgericht erließ ein Anerkenntnisurteil. Die Kosten für das Verfahren sollte allerdings der Vermieter tragen. Damit war der aber gar nicht einverstanden und legte eine Beschwerde ein - vergeblich.
Denn das LG wandte ein, dass die Mieter die Klage schließlich sofort anerkannt hatten. Zudem hatten sie dem Kläger durch ihr Verhalten zuvor auch keine Veranlassung zur Erhebung der Klage gegeben. Bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist gegen die Kündigung - nämlich zwei Wochen vor dem Räumungstermin - muss der Mieter sich nicht zu der Räumung erklären.
Hinweis: Geht es um die Zwangsräumung einer Immobilie, sollten sowohl Vermieter als auch Mieter unbedingt weiteren rechtlichen Rat einholen.
Quelle: LG Rostock, Beschl. v. 18.01.2022 - 1 T 157/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Spiel, Satz, Glasbruch: Obhutspflicht gilt auch für eine angemietete Tennishalle
Mietsachen sollten stets mit der gebotenen Vorsicht genutzt werden. Dass auch Tennisplätze eine solche Sorgfalt bei der Nutzung genießen sollten, zeigt der folgende Fall. Diesen konnte der Bundesgerichtshof (BGH) zwar nicht abschließend klären - dennoch zeigt die Sachlage deutlich, dass sich eine Haftpflichtversicherung lohnt. Denn auch Spaß und Freizeit können finanziell empfindliche Folgen nach sich ziehen, wenn am falschen Ende gespart wurde.
Ein Hobbytennisspieler hatte in der kalten Jahreszeit einen Tennisplatz in einer Halle gemietet. Die seitliche Außenlinie des Platzes verlief im Abstand von 2,50 m zur Außenwand der Tennishalle. Die Wand war komplett mit großformatigen Fenstern verglast. Im Verlauf des Spiels prallte nicht etwa der Ball, sondern gleich der ganze Tennisspieler gegen eine der Glasscheiben. Und die zerbrach. Die Reparaturkosten beliefen sich auf 2.300 EUR. Die Haftpflichtversicherung des Tennisspielers regulierte davon 800 EUR, weil ihrer Auffassung nach für die zerstörte Scheibe ein Abzug "neu für alt" vorgenommen werden müsse. Die Vermieterin der Tennishalle behauptet nun weiterhin, dass der Austausch der Scheibe sechs Wochen gedauert habe und in der Zwischenzeit der eine Tennisplatz nicht vermietbar gewesen sei. Dadurch sei ihr ein Gewinn von 6.300 EUR entgangen. Diesen Betrag und die restlichen Reparaturkosten klagte sie schließlich ein. Der Tennisspieler und seine Versicherung meinten dagegen, sie hätten die Schäden nicht zu vertreten, da sie nicht gegen Tennisregeln der International Tennis Federation (ITF) verstoßen hätten, die besagen, dass der Rückschläger auch außerhalb der Linien jede Position einnehmen dürfe. Mit dieser Argumentation kamen sie jedoch nicht weiter.
Es ging hier auch in Augen des BGH um eine vom vertragsgemäßen Gebrauch nicht gedeckte Beschädigung der Tennishalle. Der Umfang des vertragsgemäßen Gebrauchs richtet sich jeweils nach den konkreten vertraglichen Vereinbarungen und dem Vertragszweck. Hier war die Beschädigung vom vereinbarten Vertragszweck nicht gedeckt. Der BGH hat die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückverwiesen und dabei darauf hingewiesen, dass diese noch ein Mitverschulden der Vermieterin des Tennisplatzes zu prüfen habe, da der Abstand der Seitenlinie zur Außenwand sowie überhaupt das Vorhandensein einer Fensterverglasung rechtswidrig sein könnten.
Hinweis: Bei diesem Urteil handelt es sich sicherlich um einen Einzelfall. Trotzdem kann uns allen so etwas passieren. Eine private Haftpflichtversicherung ist deswegen immens wichtig, daher sollte jeder eine solche Versicherung haben.
Quelle: BGH, Urt. v. 02.02.2022 - XII ZR 46/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- "Geständiger" Fahrzeughalter: Fahrtenbuchauflage bei berechtigten Zweifeln zu Angaben im Anhörungsbogen rechtens
Eine Fahrtenbuchauflage wird zumeist dann angeordnet, wenn durch behördliche Bemühungen nicht festgestellt werden konnte, wer den erfolgten Verkehrsverstoß begangen hat. Wie es sich aber mit einer solchen Maßnahme verhält, wenn es bei der Feststellung offensichtlich keinerlei Zweifel zu geben scheint, da der "Sünder" geständig ist, zeigt das folgende Urteil des Verwaltungsgerichts Mainz (VG).
Mit dem Fahrzeug des Antragstellers wurde die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb einer Ortschaft um (bereinigte) 28 Stundenkilometer überschritten. Der Antragsteller sandte den ihm dazu von der Bußgeldbehörde zugeleiteten Anhörungsbogen mit der Angabe zurück: "Ich gebe die Zuwiderhandlung zu." Unter Hinweis auf die Zweifel an der Täterschaft des Antragstellers schrieb die Bußgeldstelle diesen mehrfach mit der Bitte um Benennung des Fahrers an; eine inhaltliche Äußerung unterblieb jedoch. Das Bußgeldverfahren wurde daraufhin zwar eingestellt, in der Folge jedoch dem Antragsteller gegenüber das Führen eines Fahrtenbuchs für das Tatfahrzeug für die Dauer von zwölf Monaten mit Sofortvollzug angeordnet. Dagegen wandte sich der Mann mit einem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs an das VG.
Das VG hat den Eilantrag abgelehnt. Die Bußgeldbehörde habe trotz aller angemessenen und zumutbaren Maßnahmen den Fahrzeugführer bei dem in Rede stehenden Verkehrsverstoß nicht ermitteln können. Der Antragsteller habe - angesichts des evidenten Abweichens des Ausweisfotos des Antragstellers von dem anlässlich des Verkehrsverstoßes erstellten Lichtbild des Fahrzeugführers - unrichtige Angaben gemacht, die geeignet gewesen seien, die Ermittlung des Täters zu verhindern. Dadurch noch verbliebene Ermittlungsansätze der Bußgeldbehörde seien ohne Erfolg gewesen. Insbesondere habe der Antragsteller auch auf Vorhalt, dass sein Tatbekenntnis nicht mit dem Fahrerfoto in Einklang zu bringen sei, keine weiteren Angaben gemacht. Nur mit dem Fahrerfoto allein sei es der Behörde unter dem Gesichtspunkt eines sachgerechten, erfolgversprechenden Aufwands jedoch nicht möglich gewesen, den Täter zu ermitteln.
Hinweis: Einem Fahrzeughalter kann das Führen eines Fahrtenbuchs aufgegeben werden, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer erheblichen Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften (bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung) nicht möglich gewesen sei. Die Fahrtenbuchauflage stelle eine der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs dienende Maßnahme der Gefahrenabwehr dar, mit der dafür Sorge getragen werden solle, dass künftige Feststellungen eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften unter erleichterten Bedingungen möglich seien.
Quelle: VG Mainz, Beschl. v. 02.03.2022 - 3 L 68/22.MZ(aus: Ausgabe 05/2022)
- Ausstellungsfahrzeug als "Neuwagen"? "Unbenutzt" ist ein Fahrzeug nur, wenn es nicht einmal Präsentationszwecken mit Kundenkontakt diente
Wann ist ein neues Auto auch im rechtlichen Sinne noch ein neues Auto? Welche Kriterien genau erfüllt werden müssen, um ein bislang nicht zugelassenes Fahrzeug auch als Neuwagen anzusehen, musste im folgenden Fall eines Sportwagenkaufs das Amtsgericht München (AG) entscheiden.
Die Klägerin erwarb Ende 2019 einen Sportwagen mit einem Listenpreis von ca. 61.000 EUR für 54.600 EUR. Der Pkw, der bereits 2018 produziert worden war, befand sich zur Zeit des Kaufs in einer anderen Niederlassung des Verkäufers. Dort war der Sportwagen ausgestellt und konnte von Besuchern besichtigt werden. Zugelassen oder gefahren worden war das Fahrzeug nicht. Nach Übernahme des Fahrzeugs stellte die Klägerin Kratzer, kleinere Dellen und Abschürfungen fest und meinte nun, sie habe anstatt eines fabrikneuen ein gebrauchtes Fahrzeug erhalten. Sie forderte daher eine Minderung des Kaufpreises in Höhe von 5.000 EUR.
Das AG gab der Klägerin Recht und verurteilte den Verkäufer zur Zahlung einer Minderung des Kaufpreises. Der Pkw war nach Auffassung des Gerichts kein Neuwagen mehr. Das Gericht geht davon aus, dass ein "unbenutztes" Kraftfahrzeug nicht nur bedeutet, dass es - wie hier - noch nicht zugelassen bzw. noch nicht gefahren, sondern auch nicht anderweitig benutzt wurde. Bei Ausstellung eines Fahrzeugs in einer Niederlassung wird es jedenfalls von einer unbestimmten Anzahl von Personen innen und außen angefasst, Türen und Kofferraum werden vielfach geöffnet, es wird probegesessen, Sitze werden verstellt etc. Die klägerische Bezifferung der Minderung im Gerichtsverfahren mit 5.000 EUR erschien dem Gericht jedoch überhöht, und es hielt einen Betrag von 1.000 EUR für angemessen.
Hinweis: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein unbenutztes Kraftfahrzeug dann noch als "fabrikneu" betrachtet werden, wenn und solange das Modell unverändert weitergebaut wird, keine standzeitbedingten Mängel vorliegen und der Zeitraum zwischen Herstellung und Abschluss des Kaufvertrags nicht mehr als zwölf Monate beträgt.
Quelle: AG München, Urt. v. 17.12.2021 - 271 C 8389/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Handy beim Fahren: Verbotswidriges Halten eines Mobiltelefons gilt auch für dessen Positionierung auf dem Oberschenkel
Was halten Sie von dem Begriff "halten"? Neben dem Sinn des "Anhaltens" womöglich das, was der Duden - zumindest auf den ersten Blick - sagt: "ergriffen, gefasst haben und nicht loslassen; festhalten". Das Bayerische Oberlandesgericht in München (BayObLG) fasst den Begriff jedoch weiter - und zwar in jenen Fällen, in denen ein Mobiltelefon am Steuer eine Rolle spielt. Und das hat damit zu tun, was die oberste Sprachinstanz auf den zweiten Blick zu der Begriffsbedeutung sagt.
Eine Autofahrerin hatte im zähfließenden Verkehr ihr Mobiltelefon auf ihrem rechten Oberschenkel abgelegt und kurz mit dem Finger die Wahlwiederholung angewählt - und wurde dabei erwischt. Einen Verstoß gegen § 23 Abs. 1a Straßenverkehrsordnung (StVO) durch die bloße Bedienung des auf dem Oberschenkel liegenden Mobiltelefons verneinte das folglich eingeschaltete Amtsgericht hingegen. Denn bei der Regelung des § 23 Abs. 1a Nr. 1 StVO handele es sich um ein "hand-held-Verbot" - also um ein Verbot des In-der-Hand-Haltens des Telefons. Und hier sei das Mobiltelefon schließlich weder aufgenommen noch gehalten worden.
Doch vom Wortsinn her bedeute "halten" nicht nur das Festhalten, sondern laut Duden und demnach auch nach Meinung des BayObLG auch das Bewirken, "dass etwas in seiner Lage, seiner Stellung oder Ähnlichem bleibt". Demnach liegt ein Halten nicht nur dann vor, wenn ein Gegenstand mit der Hand gegriffen, sondern etwa auch dann, wenn ein elektronisches Gerät bei der Nutzung zwischen Schulter und Ohr oder eben zwischen Oberschenkel und Lenkrad fixiert wird. Darüber hinaus ist ein Halten auch dann gegeben, wenn das Gerät in sonstiger Weise mit Hilfe der menschlichen Muskulatur in seiner Position bleibt. Ein Mobiltelefon kann während der Fahrt - verbunden mit den damit einhergehenden Geschwindigkeits- und Richtungsänderungen - nicht allein durch die Schwerkraft auf dem Schenkel verbleiben. Es bedarf vielmehr einer bewussten Kraftanstrengung, um die Auflagefläche so auszubalancieren, damit das Mobiltelefon nicht herunterfällt. Auch dieses durch menschliche Kraftanstrengung bewirkte Ausbalancieren unterfällt dem Begriff des Haltens.
Hinweis: § 23 Abs. 1 Satz 1 StVO verlangt, dass Sicht und Gehör des Fahrers während der Fahrt nicht beeinträchtigt sind. Dementsprechend erlaubt § 23 Abs. 1a StVO die Benutzung eines dort genannten elektronischen Geräts nur dann, wenn hierfür das Gerät weder aufgenommen noch gehalten wird und entweder nur eine Sprachsteuerung oder eine Vorlesefunktion genutzt wird oder die Bedienung des Geräts nur eine kurze Blickzuwendung erfordert. Der Fahrer soll sich primär auf das Verkehrsgeschehen konzentrieren.
Quelle: BayObLG, Beschl. v. 10.01.2022 - 201 ObOWi 1507/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Integritätsinteresse gegeben: 130-%-Grenze gilt auch bei der Reparatur von Leasingfahrzeugen
Ob ein Leasingnehmer - wie ein Eigentümer auch - sein Fahrzeug im Rahmen der 130-%-Grenze noch reparieren lassen darf oder sich auf eine Abrechnung auf Totalschadensbasis verweisen lassen muss, hatte das Oberlandesgericht Köln (OLG) zu beantworten.
Der im Gutachten veranschlagte Reparaturaufwand (Reparaturkosten zzgl. Wertminderung) des verunfallten Leasingfahrzeugs des Klägers betrug im konkreten Fall 103 % des ermittelten Wiederbeschaffungswerts. Der Kläger entschied sich - letztlich mit Zustimmung der Leasinggeberin - dazu, sein Fahrzeug gemäß den Vorgaben des Sachverständigengutachtens vollständig sach- und fachgerecht reparieren zu lassen. Auch die tatsächlichen Reparaturkosten gemäß Werkstattrechnung bewegten sich trotz leichter Ausweitung noch im Rahmen der 130-%- Grenze. Tatsächlich nutzte der Kläger das Fahrzeug dann auch noch für mehr als sechs weitere Monate. Die Haftpflichtversicherung des Schädigers regulierte dennoch nur den Wiederbeschaffungswert (abzüglich Restwert) und berief sich darauf, dass der Kläger als Leasingnehmer keinerlei sogenanntes Integritätsinteresse an dem Fahrzeug haben könne, da er dieses ohnehin zurückgeben müsse. Dies sah das OLG jedoch anders.
Auch bei einem Leasingnehmer bestehe laut OLG ein ähnlich schützenswertes Interesse an der weiteren Fahrzeugnutzung wie bei einem Eigentümer. Ebenso sei der Erhalt der Rechtspositionen schützenswert, die sich aus dem für eine konkrete Dauer abgeschlossenen Leasingvertrag ergibt. Dies beziehe mit ein, sich etwaigen Forderungen der Leasinggesellschaft durch eine vorzeitige Abrechnung nicht ausgesetzt sehen zu müssen.
Hinweis: Liegen die von einem Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten über der 130-%-Grenze und gelingt es dem Geschädigten, eine fachgerechte Reparatur gemäß den Vorgaben des Gutachtens in einer freien Werkstatt durchführen zu lassen, kann der Geschädigte die konkret angefallenen Reparaturkosten ersetzt verlangen - sofern die Kosten unter Berücksichtigung des merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen. Für die Bestimmung der 130-%-Grenze kommt es darauf an, welchen Betrag der Geschädigte tatsächlich für eine fachgerechte Reparatur aufwenden musste.
Quelle: OLG Köln, Beschl. v. 01.12.2021 - 21 U 55/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Vorrang eines Linienbusses: Verlassen der Haltestelle muss dem fließenden Verkehr durch rechtzeitiges Blinken angezeigt werden
In jedem Berufsleben gibt es Tätigkeiten, die einem in Fleisch und Blut übergegangen sind - einfach deshalb, weil sie routinemäßig zum Tagesgeschäft gehören. Dass es Berufkraftfahrern jedoch stets angeraten ist, selbst die augenscheinlich profansten Abläufe konzentriert auszuüben, zeigt der Fall des Oberlandesgerichts Celle (OLG).
Zu dem Verkehrsunfall kam es, als ein Linienbus von einer Haltestelle nach links in den fließenden Verkehr einfahren wollte und folglich mit einem Pkw zusammenstieß. Dessen Fahrer erhob gegen das Busunternehmen schließlich Schadensersatzklage, und es entstand ein Streit darüber, ob der Busfahrer das Einfahren in den fließenden Verkehr rechtzeitig durch den Blinker angezeigt hatte oder nicht.
Das OLG entschied zum Teil zugunsten des Klägers. Es spreche ein Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Linienbusfahrer den Unfall - überwiegend - verschuldet hat. Denn dieser hat nicht nachweisen können, dass er seine Absicht, nach links in den fließenden Verkehr einzubiegen, durch den Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt hatte. Damit habe nicht bewiesen werden können, dass dem Busfahrer ein Vorrecht zugestanden hat. Der Vorrang des Linienbusses besteht in der Tat erst dann, wenn der Fahrer des Busses sein Vorhaben ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt hat. Eine Mithaftung des Klägers nahm das Gericht in Höhe von 25 % aus der Betriebsgefahr an.
Hinweis: Gemäß § 10 Satz 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) muss sich der Einfahrende vom Fahrbahnrand auf eine Fahrbahn so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Vorrang des fließenden Verkehrs gilt grundsätzlich auch gegenüber dem Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs. Um derartigen Fahrzeugen, die an feste Fahrpläne und an die Einhaltung bestimmter Fahrzeiten gebunden sind, aber das Anfahren und Einordnen in den fließenden Verkehr zur Sicherstellung der zeitlichen Vorgaben zu erleichtern, bestimmt § 20 Abs. 5 StVO, dass diesen das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen ist und andere Fahrzeuge, wenn nötig, warten müssen. Diese Einschränkung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gilt aber erst dann, wenn der Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs sein Vorhaben ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt hat.
Quelle: OLG Celle, Urt. v. 10.11.2021 - 14 U 96/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- BGH zu Influencerwerbung: Präsentation geschenkter Produkte ist Werbung - die Präsentation selbsterworbener Ware nicht
Zum wiederholten Mal hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit der Problematik von Werbung durch Influencer beschäftigen müssen. Dass immer dann, wenn es um Werbung geht, dies auch gesagt werden muss, wurde bereits geklärt. Doch es bleibt die Frage, wann ist das positive Erwähnen fremder Produkte denn nun Werbung bzw. kommerzielle Werbung - und wann nicht?
Eine Bloggerin hat ein eigenes Profilkonto auf den Social-Media-Plattformen Instagram und YouTube mit jeweils einer hohen sechsstelligen Anzahl von Abonnenten und Seitenaufrufen. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit Blogs, hat einen Manager beauftragt und erzielt jährlich sechsstellige Umsätze. Überwiegend ist sie im Bereich Mode und Lebensstil tätig, verbreitet aber auch Beiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Schließlich präsentierte sie auf Instagram unter anderem Ohrringe, die ihr zuvor von einem Hersteller geschenkt worden waren. Zudem präsentierte sie Kleidung des Herstellers, die sie sich selbst gekauft hatte. Die Modeartikel und -accessoires waren mit elektronischen Markierungen - sogenannten Tap Tags - versehen, aus denen die Namen der Hersteller von Bekleidung oder der Erbringer von Dienstleistungen wie Fotoshootings oder Körperstyling hervorgingen. Beim Anklicken wurden Nutzer auf die jeweiligen Profilseiten dieser Unternehmen geführt. Das Problem daran: Die Bloggerin wies nicht darauf hin, dass es sich um Werbung handelte. Deshalb war sie bereits ein Jahr zuvor vom Verband Sozialer Wettbewerb e.V. abgemahnt worden und hatte auch eine entsprechende Unterlassungserklärung abgegeben. Der Verband forderte nun die Unterlassung sowie die Zahlung einer Vertragsstrafe. Dagegen ging die Bloggerin vor - vergeblich.
Fördert eine Influencerin durch einen Bericht über Waren oder Dienstleistungen in sozialen Medien - wie hier auf Instagram - den Absatz eines fremden Unternehmens, handelt es sich auch in Augen des BGH um kommerzielle Kommunikation. Das gilt auch dann, wenn ihr die Waren oder Dienstleistungen von dem durch den Bericht begünstigten Unternehmen kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. Anders sah es mit der gekauften Kleidung aus: Das stellte weder eine kommerzielle Kommunikation noch Werbung dar.
Hinweis: Die Präsentation von selbstgekaufter Kleidung ist also keine kommerzielle Kommunikation und auch keine Werbung. Anders sieht es eben dann aus, wenn Ware kostenlos zur Verfügung gestellt und der Verkauf bei einem Unternehmen dadurch gefördert wird.
Quelle: BGH, Urt. v. 13.01.2022 - I ZR 35/21(aus: Ausgabe 05/2022)
- Dreimonatige "Verspätung": Neben dem geltenden Anspruch auf Ausgleichsleistung sind Ersatzflüge nicht erstattungsfähig
Ist ein Flug verspätet oder fällt er ganz aus, gibt es Entschädigungsleistungen. Zu dieser Problematik hat nun das Landgericht Frankfurt am Main (LG) ein neues Urteil gefällt. Knackpunkt war hierbei, dass der Kläger nicht nur eine Ausgleichsleistung verlangte, sondern zudem Ersatz für die Kosten von Alternativflügen und Unterbringung.
Mehrere Personen hatten Flüge von Frankfurt nach Doha mit Anschlüssen nach Perth und weiter nach Cairns in Australien gebucht. Die Fluggesellschaft stornierte im Juni 2021 die Buchung der Flüge aufgrund zu geringer Auslastung und bot Ersatzflüge für den September an. Die Reisenden buchten stattdessen jedoch Ersatzflüge bei einer anderen Fluggesellschaft, für die sie deutlich mehr bezahlten. Schließlich beauftragte der Kläger für die Geltendmachung der Forderung einen Prozessbevollmächtigten - die Sache landete vor dem LG.
Das LG gab den Reisenden teilweise recht. Muss eine Fluggesellschaft wegen geringer Beförderungskapazitäten einen Flug nach Australien stornieren und kann sie einen Ersatzflug erst drei Monate später anbieten, hat der Fluggast einen Anspruch auf Ausgleichsleistung von 600 EUR pro Person. Dass die Reduzierung der Kapazität der zu befördernden Personen auf einer Anordnung der australischen Behörden beruhte, stand dem nicht entgegen. Was das Unternehmen nicht zahlen musste, waren die Kosten einer Ersatzbeförderung, die dadurch entstanden sind, dass die Fluggäste nicht bis zu dem angebotenen Zeitpunkt warten wollten.
Hinweis: Ist ein Flug verspätet, sollte das genau protokolliert werden. Häufig kommt es sogar darauf an, wann die Türen des Flugzeugs geöffnet wurden. Betroffene sollten entsprechende Beweise sichern, beispielsweise durch das Anfertigen eines Protokolls oder das Fertigen von Bildern.
LG Frankfurt a.M., Urt. v. 20.01.2022 - 2-24 O 137/21
(aus: Ausgabe 05/2022)
- Soziale Netzwerke: Nicht rechtswidrige Kommentare dürfen nicht zur Löschung und zu beschränkten Nutzungsrechten führen
Welche Rechte einserseits die Nutzer und andererseits die Betreiber von sozialen Netzwerken haben, war hier bereits öfters Thema. Im Folgenden wandte sich ein User an das Oberlandesgericht Celle (OLG), da von ihn gepostete Inhalte vom Betreiber gelöscht und daraufhin zudem seine Kontofunktionen eingeschränkt wurden.
Der Kläger hatte in einem sozialen Netzwerk über ein neues Gesetz des US-Bundesstaats New York zum Schwangerschaftsabbruch Folgendes kommentiert: "die Amis sind einfach nur pervers, und haben spaß am morden echt furchtbar" kommentiert. Außerdem postete er das Wort "umfahren" zu einer Straftat, die durch einen Afrikaner begangen wurde. Daraufhin löschte das soziale Netzwerk die Kommentare und schränkte die Nutzungsrechte des Mannes vorübergehend ein. Der klagte dagegen an - denn aus seiner Sicht gab es kein Recht zur Löschung der Beiträge, da die Nutzungsbedingungen nach einer älteren Entscheidung des Bundesgerichtshofs unwirksam waren.
Mit dieser Argumentation kam der Mann vor dem OLG auch weiter. Denn ein Recht zur Löschung nicht rechtswidriger Beiträge könnte auch nicht im Wege ergänzender Vertragsauslegung ermittelt werden. Insbesondere eine Strafbarkeit der Beiträge lag nach Ansicht des Gerichts nicht vor.
Hinweis: Es ist in den vergangenen Jahren viel Rechtsprechung zu diesem Problemkreis ergangen. Der Rechtsanwalt Ihres Vertrauens wird Ihnen genau sagen können, welche Erfolgsaussichten Sie haben, wenn Sie gegen Facebook, Twitter und Co. vorgehen wollen.
Quelle: OLG Celle, Urt. v. 20.01.2022 - 13 U 84/19(aus: Ausgabe 05/2022)
- Spiel, Satz, Corona: Tennisclub schafft Klassenerhalt wegen gegnerischen Verstoßes gegen die Corona-Einreise-Verordnung
Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen können bekanntermaßen empfindlich geahndet werden. Doch neben den persönlichen Folgen kann ein solcher Verstoß auch weitere Rechtsfolgen nach sich ziehen - so wie im Fall des Landgerichts Hamburg (LG), der sich um die Nichteinhaltung der seinerzeit geltenden Einreiseverordnungen in der Pandemie drehte.
Ein Tennisverein drohte aus der 2. Bundesliga Süd abzusteigen. Im entscheidenden Spiel hatte der Gegner einen Spieler aufgeboten, der sich noch kurz vor dem Spiel in einem Hochinzidenzgebiet - nämlich in Spanien - aufgehalten hatte. Nach der damals geltenden Corona-Einreise-Verordnung hätte sich eben jener Spieler in die Quarantäne begeben müssen, statt den Ball schlagen zu dürfen. Als der abstiegsbedrohte Tennisverein das mitbekam, legte er Einspruch gegen die Wertung des Matchs ein. Der Einspruch wurde jedoch vom Sportgericht des Deutschen Tennisbunds zurückgewiesen. Daraufhin zog der Tennisverein vor das LG.
Das LG entschied zunächst, dass eine Entscheidung des Sportgerichts durch die ordentliche Gerichtsbarkeit überprüft werden kann. Und diese Überprüfung ergab, dass der gegnerische Spieler offensichtlich nicht spielfähig und damit auch nicht spielberechtigt war. Da das Spiel unter derartigen Umständen nicht gewertet werden durfte, stieg der Tennisclub infolgedessen auch nicht aus der 2. Bundesliga Süd ab.
Hinweis: Wer ein Bußgeld oder Ähnliches wegen eines Verstoßes gegen Corona-Bestimmungen erhalten hat, sollte dieses von einem Rechtsanwalt prüfen lassen. Viele solcher Bußgeldbescheide sind rechtswidrig.
Quelle: LG Hamburg, Urt. v. 24.01.2022 - 313 T 2/22(aus: Ausgabe 05/2022)
- Umgewehtes Baustellenschild: Ohne maßgebliche Verletzung von Sicherheitsvorschriften muss Kommune nicht haften
Die Sturmgefahr wird in Deutschland immer größer. Deshalb gibt es auch immer mehr Urteile, die sich mit diesem Problemkreis befassen. In diesem Fall des Landgerichts Köln (LG) ging es um ein umgestürztes Baustellenschild und die Frage, ob die Stadt für einen dadurch entstandenen Schaden haften muss.
Ein Mann hatte sein Fahrzeug am Vorabend eines Sturms mit der Windstärke 11 vor seinem Haus in Köln in einer Parkbucht abgestellt. An dieser Stelle hatte jedoch einige Wochen zuvor eine von der Stadt Köln beauftragte Firma Arbeiten auf der Fahrbahn durchführen lassen. In diesem Zusammenhang veranlasste das Unternehmen selbst die Aufstellung und die Entfernung der Baustellenschilder. Ein Baustellenschild war nun durch den Sturm umgefallen und hatte das Fahrzeug des Klägers beschädigt. Die Reparatur- und Gutachterkosten beliefen sich auf knapp 3.000 EUR. Dieses Geld verlangte er nun von der Stadt Köln erstattet.
Das LG sah das jedoch anders. Wird ein Verkehrsschild durch einen Sturm umgerissen und fällt auf das Auto eines Anwohners, muss die Kommune, die das Aufstellen des Schilds angeordnet hatte, nicht zwangsläufig für den Schaden an dem Auto aufkommen. Dies gilt vor allem, wenn die maßgeblichen Sicherheitsvorschriften, wie im konkreten Fall, eingehalten worden waren. Der Mann bekam also seinen Schaden nicht ersetzt.
Hinweis: Jeder Fall in diesem Bereich ist anders zu beurteilen. Ob Sicherheitsvorschriften tatsächlich eingehalten wurden oder nicht, kann im Zweifelsfall der Rechtsanwalt oder ein Sachverständiger feststellen.
Quelle: LG Köln, Urt. v. 11.02.2022 - 5 O 313/19(aus: Ausgabe 05/2022)