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- Abmahnung ausreichend: Keine zwingende Kündigung von Pflegekraft nach Impfunfähigkeitsbescheinigung aus Internet
Nicht immer geht es für Arbeitnehmer so glimpflich aus, wenn sie vom Arbeitgeber beim Lügen oder Betrügen erwischt werden. Denn wer sich dabei versucht, riskiert die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Dass das Landesarbeitsgericht Hamm (LAG) hier die Kündigung nicht bestätigte, lag an einem Detail, das in vielen Fällen gegen die Entlassung spricht.
Eine Pflegeassistentin in einem Pflegeheim war gesetzlich verpflichtet, bis zum 15.03.2022 entweder einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis, ein ärztliches Zeugnis über eine Schwangerschaft oder ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Corona-Virus geimpft werden könne. Die Arbeitnehmerin erhielt über eine Website eine Bescheinigung über eine vorläufige Impfunfähigkeit und ein Anschreiben zur Vorlage bei ihrem Arbeitgeber. Dafür musste sie online lediglich formularmäßige Fragen verneinen - zum Beispiel, ob sie ausschließen könne, gegen einen der Bestandteile der Impfstoffe allergisch zu sein. Sowohl die Impfunfähigkeitsbescheinigung als auch das Anschreiben waren von einer Dr. E. unterschrieben worden - beides legte die Pflegeassistentin ihrem Arbeitgeber vor. Dieser kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis mit der Behauptung, die Pflegeassistentin habe eine unrichtige Impfunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt. Gegen die Kündigung klagte die Frau - und zwar erfolgreich.
Nach Auffassung des LAG kann auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen durchaus eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstellen, die den Arbeitnehmer trifft. Deshalb kann insbesondere eine solche "vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung" eine Kündigung rechtfertigen, die ohne ärztliche Untersuchung erstellt wurde und den falschen Eindruck erweckt, auf den individuellen Verhältnissen des Arbeitnehmers zu beruhen. Hier war die Bescheinigung inhaltlich irreführend, da sie den Eindruck erweckte, es habe ein persönlicher Kontakt zwischen der Klägerin und der ausstellenden Ärztin bestanden und die ärztliche Stellungnahme beruhe auf den individuellen Besonderheiten der Arbeitnehmerin. Die notwendige Interessenabwägung fiel hier dennoch zugunsten der Arbeitnehmerin aus. Es war für die Arbeitgeberin zumutbar, das Arbeitsverhältnis weiter fortzusetzen. Zur Vermeidung künftiger Vertragsstörungen wäre der Ausspruch einer Abmahnung ausreichend gewesen.
Hinweis: Jeder Fall ist im Arbeitsrecht gesondert zu betrachten. Das zeigt dieses Urteil ganz besonders. Bei Straftaten und Täuschungshandlungen sollten Arbeitnehmer jedoch stets bedenken, dass der Bestand des Arbeitsverhältnisses auf dem Spiel steht.
Quelle: LAG Hamm, Urt. v. 30.03.2023 - 18 Sa 1048/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Beweislastumkehr: Wesentliche Erleichterungen für diskriminierte Bewerber
Wer sich durch eine Absage nach einer Stellenbewerbung diskriminiert fühlt, hat im Gegensatz zu anderen Klägern einige Trümpfe in der Hand. Denn bei Klagen, die sich gegen eine gemutmaßte Diskriminierung richten, sind es die Arbeitgeber, die beweisen müssen, dass sie rechtens gehandelt haben. Wer das wie im folgenden Fall vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) nicht kann, muss Entschädigungszahlungen in Kauf nehmen.
Der schwerbehinderte Bewerber bewarb sich auf eine im Internet ausgeschriebene Stelle. Er wies in der Bewerbung auf seine Schwerbehinderung hin. Nachdem ihm der potentielle Arbeitgeber eine Absage erteilt hatte, machte der Bewerber einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend. Dabei rügte er pauschal, dass weder der Betriebsrat noch die Schwerbehindertenvertretung über seine Bewerbung informiert worden seien. Der Arbeitgeber meinte hingegen, der Bewerber hätte nicht über alle in der Stellenanzeige genannten Kriterien und Qualifikationen verfügt und wäre deshalb nicht eingestellt worden. Zu einer fehlerhaften Beteiligung von Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertretung äußerte er sich nicht - ein großer Fehler, wie sich später herausstellte.
Das BAG sprach dem schwerbehinderten Bewerber nun auch einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 7.500 EUR zu. Denn nach § 22 AGG sind bei Diskriminierungen Erleichterungen bei der Darlegungslast vorgesehen - eine sogenannte Beweislastumkehr ist möglich. Kann ein Bewerber konkrete Anhaltspunkte darlegen, die seine Benachteiligung im Sinne des AGG vermuten lassen, trägt der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass gerade kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen habe. In dem vorliegenden Fall reichte es aus, dass der Bewerber vorgetragen hatte, dass der potentielle Arbeitgeber gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen habe, da er behauptete, dass der Betriebs- oder Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung nicht nach § 164 Abs. 1 Satz 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch über die Bewerbung unterrichtet wurden. Und weil er dies unterlassen hatte, musste der Arbeitgeber dem Bewerber eineinhalb Gehälter zahlen.
Hinweis: Um Diskriminierungsindizien darzulegen, genügt künftig die bloße Vermutung, dass der Arbeitgeber den Betriebs- oder Personalrat oder die Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen nicht unterrichtet hat. Mit diesem Urteil hat das BAG dafür gesorgt, dass nun Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung tatsächlich informiert werden. Andernfalls kann es für das Unternehmen richtig teuer werden.
Quelle: BAG, Urt. v. 14.06.2023 - 8 AZR 136/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Missachtete Mitbestimmung: Verstoß durch Arbeitgeberin begründet kein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats
Wer das Mitbestimmungsrecht seines Betriebsrats missachtet, sieht seinen betrieblichen Personalplanungen schnell Grenzen aufgezeigt. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (LAG) wurde um die Ersetzung einer - nach einem Verstoß - verweigerten Zustimmung gebeten und behielt dabei auch das Interesse des Arbeitnehmers im Auge, dessen begehrte Versetzung auf dem Spiel stand.
In einer Gießerei mit knapp 1.000 Mitarbeitern gab es einen 15-köpfigen Betriebsrat. Als eine Stelle ausgeschrieben wurde, verwendete die Arbeitgeberin Interviewbogen. Darin waren Punkte für einzelne Kriterien aufgeführt, die zu einer aufgeführten Gesamtpunktzahl führten. Ebenso befanden sich darin weitere Erläuterungen zu den einzelnen Bewerbern. Nach den Gesprächen entschied sich die Arbeitgeberin für einen bereits bei ihr beschäftigten Mitarbeiter, der die Stelle bekommen sollte. Sie beantragte deshalb beim Betriebsrat die Zustimmung zur Versetzung des Mitarbeiters auf den neuen Posten. Sie teilte dem Betriebsrat den Ablauf des Bewerbungsverfahrens mit und fügte die ausgefüllten Interviewbogen bei. Der Betriebsrat verweigerte jedoch seine Zustimmung zur geplanten Versetzung. Eine Zustimmung des Betriebsrats zur Verwendung der Interviewbogen lag nicht vor. Und da er nicht bereits unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen unterrichtet worden war, verletze die Verwendung der Bogen in dem Bewerbungsgespräch seine Mitbestimmungsrechte gemäß § 94 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Danach bedürfen Personalfragebogen der Zustimmung des Betriebsrats. Daraufhin beantragte die Arbeitgeberin die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats.
Das LAG hat dem Antrag der Arbeitgeberin stattgegeben und damit die Zustimmung des Betriebsrats zur Versetzung des Mitarbeiters in die Position als Koordinator Elektrotechnik ersetzt. Es lag schlicht und ergreifend kein Zustimmungsverweigerungsgrund vor. Zwar hatte sich der Betriebsrat in genügender Weise auf einen Verstoß gegen § 94 BetrVG bezogen. Ein solcher Verstoß begründet aber keinen Zustimmungsverweigerungsgrund zu einer Versetzung oder Einstellung. Verwendet die Arbeitgeberin bei der Stellenbesetzung nicht durch den Betriebsrat mitbestimmte Personalfragebogen oder Beurteilungsgrundsätze, begründet ein solcher Verstoß durch die Arbeitgeberin kein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats.
Hinweis: Es ist also eindeutig klar, dass der Betriebsrat bei der Verwendung von Personalfragebogen und Beurteilungsgrundsätzen zu beteiligen ist. Wird das unterlassen, kann der Betriebsrat dagegen vorgehen. Ein Verstoß führt aber eben nicht zu einem Zustimmungsverweigerungsgrund des Betriebsrats bei einer Versetzung oder Einstellung.
Quelle: LAG Düsseldorf, Beschl. v. 02.08.2023 - 12 TaBV 46/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Namensliste für Betriebsrat: Kenntnis über Schwerbehinderte nötig, um Pflichterfüllung des Arbeitgebers zu überwachen
Da eine Schwerbehinderung einem Menschen nicht zwingend anzusehen ist, ist es auch sehr verständlich, dass der ein oder andere Arbeitnehmer eine solche gern für sich behält, so wie jeder andere es mit Privatem auch handhabt. Unter welchen Umständen man im Arbeitsverhältnis wem gegenüber jedoch nicht umhin kommt, eine Schwerbehinderung anzugeben, konnte in diesem Fall erst durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) geklärt werden.
Der Betriebsrat eines Entsorgungsunternehmens verlangte vom Arbeitgeber Auskunft über Anzahl und Namen der schwerbehinderten Mitarbeiter im Unternehmen. Wegen datenschutzrechtlicher Bedenken bat der Arbeitgeber die betroffenen Mitarbeiter um ihre Zustimmung zur Weitergabe ihres Namens, die jedoch einige Mitarbeiter nicht erteilten. Der Arbeitgeber verweigerte dem Betriebsrat daraufhin die Übermittlung der Namensliste, teilte ihm jedoch mit, dass mindestens fünf schwerbehinderte Mitarbeiter im Unternehmen beschäftigt seien, so dass eine Schwerbehindertenvertretung zu wählen sei. Der Betriebsrat beharrte jedoch auf der Vorlage der Namensliste und zog vor das Arbeitsgericht.
Vor dem BAG hatte der Betriebsrat Erfolg. Denn er überwacht, ob der Arbeitgeber seine Pflichten gegenüber schwerbehinderten Mitarbeitern erfüllt (§ 80 Abs. 1 Nr. 4 Betriebsverfassungsgesetz und § 176 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch). Das gilt auch in Bezug auf schwerbehinderte leitende Angestellte. Denn ein Sprecherausschuss, der ansonsten die Interessen leitender Angestellte vertritt, hat diese Aufgabe nicht. Der Betriebsrat kann diese Aufgabe folglich nur wahrnehmen, wenn er die Namen aller schwerbehinderten Arbeitnehmer kennt. Auf die Zustimmung der betroffenen Mitarbeiter kommt es laut BAG dabei nicht an. Die Klage des Betriebsrats war daher erfolgreich - der Arbeitgeber musste ihm die Namensliste aushändigen.
Hinweis: Niemand muss im Betrieb seine Schwerbehinderung offenbaren. Wer das nicht möchte, kann allerdings auch nicht die "Vorzüge" - wie beispielsweise den Zusatzurlaub - für sich in Anspruch nehmen.
Quelle: BAG, Beschl. v. 09.05.2023 - 1 ABR 14/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Tatbild zu banal: Auch nach Diebstahl kann ordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung ins Leere laufen
Seit dem Pfandbonurteil 2008 und dessen Folgen sollten sich alle Arbeitnehmer der Gefahr bewusst sein, dass selbst als Bagatelldelikte empfundene Straftaten im Betrieb schnell den Arbeitsplatz kosten können. Der Angestellte, der sich hier vor dem Landesarbeitsgericht Köln (LAG) gegen seine Kündigung zur Wehr setzte, hatte Glück. Doch auch, wenn die Urteilsbegründung nachvollziehbar und durchaus befriedigend sein mag - man sollte sich nicht darauf verlassen, dass andere Gerichte in ähnlichen Fallgestaltungen die gleiche Perspektive einnehmen.
Ein über zehn Jahre beschäftigter Produktionsleiter hatte den Abtransport von drei Holzpaletten veranlasst, um diese später auf dem Sportplatz eines örtlichen Fußballvereins für das dort stattfindende Osterfeuer als Brennholz zu verwenden. Zuvor waren alle Beschäftigten vom Arbeitgeber darüber informiert worden, dass das Lager ausgemistet werde. Allerdings sollten ausschließlich Plastikboxen und Kisten frei weggegeben werden. Der Produktionsleiter wurde im Rahmen eines Personalgesprächs zum Vorwurf des Diebstahls angehört. Er äußerte darin, dass es sich bei den drei Paletten um wertlosen Schrott gehandelt habe, der zum Verbrennen bestimmt gewesen sei. Daraufhin wurde der Betriebsrat zu einer fristlosen Kündigung angehört. Dieser widersprach der Kündigung. Es sei im Betrieb bisher üblich gewesen, dass Einwegpaletten und beschädigte Paletten als Brennholz mit nach Hause genommen werden durften. Dennoch wurde das Arbeitsverhältnis fristlos (und hilfsweise fristgerecht) gekündigt, wogegen der Produktionsleiter eine Kündigungsschutzklage einlegte.
Das LAG hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Als Erstes hielt es die außerordentliche Kündigung schlichtweg für unverhältnismäßig. Der Pflichtverletzung des Produktionsleiters hätte mit einer Abmahnung erfolgversprechend begegnet werden können. Eine Abmahnung war auch nicht im Hinblick auf eine etwaige Schwere des Vorwurfs entbehrlich - der Wert der Paletten war dafür einfach zu gering, bei der Tat zeigte sich zu wenig kriminelle Energie, die Tatbegehung war nicht heimlich genug und das Gesamtbild der Tat zu banal, nämlich das Verbrennen von Verpackung beim Osterfeuer. Eine einschlägige Abmahnung lag hier ebenso wenig vor.
Die außerordentliche Kündigung erwies sich also als unverhältnismäßig. Aber auch durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung ist das Arbeitsverhältnis nicht beendet worden. Die Verhältnismäßigkeit ist nämlich auch vor Ausspruch einer ordentlichen Kündigung zu prüfen. Und mit dieser Überprüfung geht die Frage einher, ob nicht auch weniger einschneidende Tatsachen geeignet sind, die eingetretene Störung des Vertrauensverhältnisses zu überwinden. Es verhält sich bei der ordentlichen Kündigung also so wie bei der fristlosen Kündigung: Vor Ausspruch einer Beendigungserklärung ist als milderes Mittel eine Abmahnung auszusprechen.
Hinweis: Der Arbeitnehmer des Falls hat Glück gehabt. Arbeitnehmer sollten im Umgang mit dem Eigentum des Arbeitgebers dennoch stets vorsichtig sein. Schneller als gedacht steht hier oftmals eine Kündigung im Raum.
Quelle: LAG Köln, Urt. v. 06.07.2023 - 6 Sa 94/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Antrag abgelehnt: Kein quotenloser Erbschein, wenn die Erbquoten den eindeutigen Erben zugeordnet werden können
Sind mehrere Erben vorhanden, ist auf Antrag ein gemeinschaftlicher Erbschein zu erteilen. In dem Antrag sind die Erben und ihre Erbteile anzugeben. Erforderlich ist dies dann nicht, wenn alle Antragsteller in dem Antrag auf die Aufnahme der Erbteile in dem Erbschein verzichten. Diese gesetzliche Regelung war Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem Oberlandesgericht Celle (OLG).
Der im Jahr 2021 verstorbene Erblasser war verwitwet und hatte keine Kinder hinterlassen. In zwei testamentarischen Verfügungen hatte der notariell beratene Erblasser ausdrücklich zwischen Erben und Vermächtnisnehmern unterschieden und für die insgesamt zehn Erben eindeutige Erbquoten festgelegt. Einer der Miterben beantragte die Erteilung eines quotenlosen Erbscheins, was sowohl das Amtsgericht als auch letztlich das OLG ablehnten.
Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, auf die Aufnahme der Erbquoten in dem zu erteilenden Erbschein zu verzichten, ist es, die einfache Erteilung eines Erbscheins in den Fällen zu ermöglichen, in denen die Bestimmung der Erbquoten mit weiterem Aufwand verbunden wäre. Können die Erben aber eindeutig und zweifelsfrei bestimmt werden und diesen entsprechende Erbquoten zugeordnet werden, besteht kein Grund, auf die Angabe der Quoten zu verzichten.
Hinweis: Es ist erforderlich, dass alle Antragsteller - also alle Miterben - auf die Aufnahme der Erbquoten in den Erbschein verzichten.
Quelle: OLG Celle, Beschl. v. 23.10.2023 - 6 W 116/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Bindungswirkung des Ehegattentestaments: Weder nachträgliche Testamentsvollstreckung noch nachträgliche Abänderung von Voll- zu Vorerben
Wechselbezügliche Verfügungen im gemeinschaftlichen Ehegattentestament unterliegen grundsätzlich einer Bindungswirkung und können nach dem Tod des Erstversterbenden nicht einseitig abgeändert werden. Deshalb bleibt auch dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) keine andere Möglichkeit, als auf die Einhaltung der von beiden Erblassern gemeinsam getroffenen Vereinbarung zu bestehen.
Die Eheleute hatten im Jahr 1974 ein handschriftliches gemeinschaftliches Testament aufgesetzt und sich darin wechselseitig zu Alleinerben eingesetzt - mit der Maßgabe, dass der Überlebende unbeschränkt und frei über das gemeinsame Vermögen verfügen dürfe. Der Überlebende wurde verpflichtet, den gesamten Nachlass an die zwei gemeinsamen Kinder (Tochter und Sohn) weiterzuvererben, was die Verfügungsfreiheit des Überlebenden über den Nachlass nicht berühren sollte. Ebenso enthielt das Testament eine Regelung für den Fall der Wiederverheiratung des Überlebenden sowie eine Pflichtteilsstrafklausel im Hinblick auf die beiden Kinder, von denen der Sohn aufgrund einer Behinderung unter gesetzlicher Betreuung stand.
Nach dem Tod des Ehemanns errichtete die Erblasserin im Jahr 2015 ein notarielles Testament, in dem sie ihre Kinder zu Erben berief. Maßgabe darin war, das ihr Sohn zum befreiten Vorerben und dessen Kinder nach seinem Tod zum Nacherben bestimmt werden. Zugleich ordnete sie eine Dauertestamentsvollstreckung an und bestimmte ihre Tochter zur Testamentsvollstreckerin. Es sollte damit sichergestellt werden, dass der Sohn einen angemessenen Lebensstandard über dem Sozialhilfeniveau erhält.
Der Betreuer des Sohns war aber der Ansicht, dass die Beschränkung auf eine Vor- und Nacherbschaft sowie die Einrichtung einer Dauertestamentsvollstreckung wegen Verstoßes gegen die Bindungswirkung des Testaments aus dem Jahr 1974 unwirksam sei. Dieser Ansicht schloss sich im Ergebnis auch das OLG an. Die Auslegung des Testaments ergab, dass die Verpflichtung des Überlebenden zur Weitergabe des ihm angefallenen Erbes als Einsetzung der Kinder als gemeinsame Erben des Letztverstorbenen auszulegen war. Ist in einem gemeinschaftlichen Testament durch eine solche wechselbezügliche Verfügung ein unbeschränkter Erbe eingesetzt worden, stellt die Anordnung einer Testamentsvollstreckung ebenso eine beeinträchtigende Verfügung dar wie die Abänderung von einem Vollerben zu einem bloßen Vorerben. Aus diesem Grund war die im Jahr 2015 getroffene Anordnung unwirksam.
Hinweis: Die Einsetzung eines behinderten Kindes als Vorerbe unter Beteiligung eines engen Verwandten als Testamentsvollstrecker mit der Aufgabe, die dem Vorerben zustehenden Mittel der Erbschaft in einer Weise zu verwenden, dass sie dem Zugriff des Sozialhilfeträgers entzogen werden, entspricht der üblichen Gestaltungspraxis und ist in der Rechtsprechung als zulässig anerkannt.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 23.10.2023 - 21 W 69/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Höfeordnung und Nachabfindungsansprüche: Selbst Wertunterschied in Millionenhöhe führt nicht zu Sittenwidrigkeit von Erbverzichtsvertrag
Rechtsstreitigkeiten vor dem Hintergrund der Höfeordnung spielen zumeist in ländlichen Gegenden eine Rolle. Die Höfeordnung regelt die Erbfolge bei land- und forstwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland. Durch diese spezielle gesetzliche Regelung soll sichergestellt werden, dass landwirtschaftliche Familienbetriebe über Generationen hinweg erhalten bleiben. Das Oberlandesgericht Celle (OLG) musste entscheiden, ob ein Verzicht auf den Pflichtteil und die Nachabfindung im Nachhinein für sittenwidrig erklärt werden kann.
Im Jahr 2013 hatte der verstorbene Erblasser zunächst im Wege der vorweggenommenen Erbfolge ein Baugrundstück an seine Töchter übertragen. Im Rahmen des Überlassungsvertrags verzichteten diese für sich und ihre Abkömmlinge auf etwaige Pflichtteilsansprüche nach ihren Eltern einschließlich etwaiger Nachabfindungsansprüche aus der Höfeordnung. Im Jahr 2002 übertrug der Erblasser den Hof dann an den Sohn ebenfalls im Wege der vorweggenommenen Erbfolge. Dann verkaufte der Sohn den Hof nach dem Tod des Erblassers und gab an, dies aus gesundheitlichen Gründen machen zu müssen. Eine der Schwestern war nun der Ansicht, dass der Verzicht auf den Pflichtteil sowie die Nachabfindung unwirksam seien, da die "Millionenbeträge", die der Sohn durch die Veräußerung erhalte, in einem krassen Missverhältnis zum Verzicht auf den Pflichtteil und die Nachabfindung stehe. Zudem habe sie den Verzicht ihrerseits in der Annahme erklärt, dass der Bruder den Hof des Erblassers weiterführen werde.
Das OLG hat den Antrag der Tochter des Erblassers zurückgewiesen und dies unter anderem damit begründet, dass ein bloßer Wertunterschied - selbst in Millionenhöhe - zwischen dem an den Verzichtenden gezahlten Abfindungsbetrag und möglichen Erb- und Pflichtteilsansprüchen nicht zu einer Sittenwidrigkeit der Vereinbarung führt. Erbverzichtsverträge sind grundsätzlich stark risikobehaftet, weshalb bei der Beurteilung der Frage einer Sittenwidrigkeit nach Auffassung des OLG äußerste Zurückhaltung geboten sei.
Hinweis: Die Annahme einer Sittenwidrigkeit kann dann in Betracht kommen, wenn der Verzichtende durch Täuschung oder Nötigung zur Abgabe seiner Willenserklärung gebracht wurde.
Quelle: OLG Celle, Beschl. v. 19.09.2023 - 7 W 17/23 (L)(aus: Ausgabe 12/2023)
- Keine wirksame Erbeinsetzung: Beispielhafte Benennung im Testament zur Deutlichmachung von Erbvoraussetzungen reicht nicht
In dem Fall hatte eine im Jahr 2021 verstorbene kinderlose und verwitwete Erblasserin ein handschriftliches Testament errichtet und dort verfügt: "Die Person, die mich bis zu meinem Tode pflegt und betreut, soll mein gesamtes Vermögen bekommen! Zurzeit ist dies: Frau xx.xx." Die Frage, die sich dem Oberlandesgericht München (OLG) nun stellte, war, ob eine solche beispielhafte Benennung für die Erteilung eines Erbscheins an "Frau xx.xx." ausreicht.
Nach dem Tod der Erblasserin beantragte die in dem Testament benannte Dame nämlich die Erteilung eines solchen Erbscheins. Diesen Antrag lehnte das OLG im Ergebnis jedoch ab, da es in dem handschriftlichen Testament der Erblasserin keine wirksame Erbeinsetzung gesehen hat. Zwar werde die Antragstellerin in dem Testament namentlich genannt - die Erblasserin habe aber gerade keine bestimmte Person als Erbin eingesetzt. Im Grunde habe sie lediglich die Voraussetzungen festgelegt, die ein Erbe erfüllen müsse, um in die Erbfolge eintreten zu können.
Durch die Verwendung des Wortes "zurzeit" sei keine endgültige Benennung einer Rechtsnachfolge im wirtschaftlichen Sinne erfolgt. Die Anordnung, dass derjenige die Zuwendung erhalten solle, der sie "pflegt und betreut", führe dazu, dass die Erblasserin lediglich beispielhaft eine Person genannt hatte, die im Moment der Testamentserstellung die Voraussetzungen erfüllt habe. Entscheidend sei aber für die Wirksamkeit eines Testaments, dass der Erblasser die Bestimmung der Person, die eine Zuwendung im Sinne einer Erbeinsetzung erhalten soll, nicht einem anderen überlassen darf. Das OLG ging daher davon aus, dass die testamentarische Verfügung unwirksam war.
Hinweis: Die Bestimmung einer Person als Erben darf nicht einem Dritten überlassen werden. Es ist aber möglich, die Bezeichnung der Person an einen Dritten zu übertragen. In diesem Fall müssen sich aber aus dem Testament eindeutige Hinweise ergeben, die eine Identifizierung der bedachten Person ohne weiteres möglich machen.
Quelle: OLG München, Beschl. v. 25.09.2023 - 33 Wx 38/23 e(aus: Ausgabe 12/2023)
- Vermögen beider Elternteile: Geschäftswert für die Beurkundung eines Pflichtteilsverzichtsvertrags
Gelegentlich schaffen es auch Streitigkeiten über Geschäftswerte bis zum Bundesgerichtshof (BGH). Die dort entschiedene Frage spielt in der Praxis eine beachtliche Rolle, weil bislang Uneinigkeit darüber bestanden hat, auf welcher Grundlage die Kosten für die Beurkundung eines Pflichtteilsverzichtsvertrags zu bemessen sind.
Im Jahr 2017 beurkundete ein Notar einen Pflichtteilsverzicht der Kinder gegenüber dem Erstversterbenden der Eltern zugunsten des überlebenden Elternteils. In der Folge stellte der Notar seine Gebühren in Rechnung und ermittelte diese Gebühren anhand des Vermögens nur eines Elternteils. Da Notare ein öffentliches Amt ausüben, unterliegen diese Gebührenabrechnungen auch einer Überprüfung durch die Notarkasse. Und diese war hier der Ansicht, für den Wert des Pflichtteilsverzichts sei das Vermögen beider Elternteile zu berücksichtigen. Nachdem das Landgericht München noch der Ansicht war, das Vermögen beider Elternteile müsse für die Ermittlung des Geschäftswerts zugrunde gelegt werden, hob das Oberlandesgericht diese Entscheidung zunächst auf.
Der BGH stellte nunmehr aber klar, dass in einer Konstellation, in der Kinder auf den Pflichtteilsanspruch zugunsten des überlebenden Elternteils verzichten, das Vermögen beider Erblasser zugrunde zu legen sei. Es handelte sich um zwei selbständige Pflichtteilsverzichtsverträge mit beiden Erblassern, weshalb nach den Regelungen für die Notarkosten die Werte beider Rechtsverhältnisse zusammengerechnet werden. Im Ergebnis war daher die vorgenommene Beurkundung für die Auftraggeber teurer als zunächst von dem Notar selbst in Rechnung gestellt.
Hinweis: Das Pflichtteilsrecht und der Pflichtteilsanspruch sind grundsätzlich voneinander zu unterscheiden. Der Pflichtteilsverzicht ist ein Rechtsgeschäft, das nur mit dem Erblasser zu dessen Lebzeiten abgeschlossen werden kann.
Quelle: BGH, Beschl. v. 11.10.2023 - IV ZB 26/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Dreijähriger Umgangsausschluss: Bindungsintolerante Mutter einer Sechsjährigen erreicht ihr Ziel im Umgang mit dem Kindsvater
Wenn ein Elternteil seine Kinder gar nicht mehr sehen darf, hat er sich für diesen Umgangsausschluss meist etwas zuschulden kommen lassen. Dass jedoch auch durch massive Bindungsintoleranz des anderen Elternteils und Beeinflussung des Kindes gelingen kann, dass Jugendamt und Gericht einen Umgangsabbruch mittragen, zeigt der Fall des Brandenburgischen Oberlandesgerichts (OLG).
Die Eltern einer Sechsjährigen hatten sich schon vor ihrer Geburt getrennt. Die unregelmäßigen Umgangskontakte waren von elterlichen Konflikten geprägt. Als nach einem gerichtlich vermittelten Vergleich mit zaghaftem Umgang begonnen wurde, zeigte die Mutter den Vater bereits nach dem ersten Termin wegen sexuellen Missbrauchs an, woraufhin das Gericht die Umgangskontakte begleiten ließ. Eine Gutachterin konnte die Aussagen des Kindes zum sexuellen Missbrauch nicht verifizieren und schloss zuvor beeinflussende Suggestivfragen der Mutter zudem nicht aus. Sie stellte eine positive Vater-Tochter-Beziehung und den Wunsch des Kindes nach Vaterkontakt fest. Dem meist vertrauensvollen, unbekümmerten und fröhlichen Kind bescheinigte sie ausreichende Ressourcen, die Auswirkungen des elterlichen Spannungsfelds abzupuffern. Sehr wahrscheinlich werden die Kompetenzen und Ressourcen des Kindes allerdings überschritten, wenn die Eltern ihren Mustern treu blieben.
Ein daraufhin beauftragter Umgangsbegleiter bescheinigte dem Vater einen guten Umgang mit seinem Kind. Nachdem aus unterschiedlichen Gründen von November 2021 bis Sommer 2022 gar keine (begleiteten) Umgänge stattfanden, sollten diese ab August 2022 weitergehen. Das Mädchen zeigte nun eine zunehmende Verweigerungshaltung, so dass das Jugendamt nach einigen vergeblichen Versuchen im Dezember 2022 entschied, keine Umgangsbegleitung mehr anzubieten. Das Mädchen könne sich aufgrund seines Alters nicht ausreichend gegenüber der bindungsintoleranten Mutter abgrenzen und auf einen Umgang mit dem Vater einlassen.
Auch wenn eine Beeinflussung des Kindes durch die Mutter vorliegen sollte, ist ein Umgang gegen die weiter anhaltende ablehnende Haltung des Kindes mit einer erheblichen Gefahr für die weitere Entwicklung verbunden. Durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit kann ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Umgang unter Umständen mehr Schaden verursachen als Nutzen bringen. Dabei kommt es laut OLG auf eine mögliche Beeinflussung durch die Mutter nicht an, denn mit den bereits sachverständigenseits getroffenen Feststellungen löst das Kind den bestehenden Loyalitätskonflikt für sich mit einer derzeitigen kompletten Ablehnung des Vaters. Zudem wies das OLG darauf hin, dass die vorliegend fehlende Mitwirkungsbereitschaft des Jugendamts durch eine gerichtliche Anordnung nicht überwunden werden kann. Dem Familiengericht steht weder gegenüber dem Jugendamt noch gegenüber freien Jugendhilfeträgern eine Anordnungskompetenz zur Begleitung von Umgängen zu. Auch stelle eine Trennung von der Mutter als Hauptbezugsperson mit der zu erwartenden Traumatisierung eine größere Gefahr für die weitere Entwicklung dar als der vorläufig weiterhin fehlende Kontakt zum Vater. Eine solche Maßnahme wäre daher ungeeignet und unverhältnismäßig und deshalb unzulässig. Aus diesen Gründen bestätigte das OLG einen dreijährigen Umgangsausschluss.
Hinweis: In Brechts Drama "Der kaukasische Kreidekreis" bekommt von zwei streitenden Müttern diejenige das Kind zugesprochen, die aus Mitleid mit dem Kind loslässt und nicht mehr an ihm zerrt. Vor Familiengerichten funktioniert diese salomonische Lösung selten.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 12.10.2023 - 9 UF 115/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Versorgungsausgleich und Mütterrente: Geschiedener Mann bekommt seine Rente zurück
2014 wurde die sogenannte Mütterrente I und 2019 die Mütterrente II eingeführt, mit der Frauen aus Kindererziehungszeiten eigene Rentenpunkte erwerben: 1,0 Entgeltpunkte plus 0,5 je Kind in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wie sich diese Rentenpunkte nachträglich auf einen bereits berechneten Versorgungsausgleich auswirken, war Kern des Falls, der bis vor den Bundesgerichtshof (BGH) ging.
Für einen Mann, der 1998 geschieden worden war und beim Versorgungsausgleich Rentenpunkte an die Geschiedene abgegeben hatte, stellte sich nun die Frage, ob der damalige Ausgleich retrospektiv gerecht war. Denn das gemeinsame Kind war während der Ehe geboren worden, und die diesbezüglichen Rentenpunkte waren ja erst durch das neue Gesetz nach der Scheidung gutgeschrieben worden. Dem Mann, der inzwischen in Rente gegangen war, fehlten nun Anteile im Wert von damaligen 311 DM monatlich. Bei der früheren Ehefrau kam davon nichts mehr an, denn diese war inzwischen verstorben. Die "Mütterrente" sollte nun aber der Grund für eine sogenannte Totalrevision des Versorgungsausgleichs sein - der Mann wollte alles nochmal neu ausgerechnet haben. Das ist grundsätzlich denkbar, wenn sich die Entscheidung zum Versorgungsausgleich wegen späterer tatsächlicher oder rechtlicher Änderungen als unrichtig herausstellt.
Der BGH orientierte sich an den sogenannten Wesentlichkeitsgrenzen: mindestens 5 % des bisherigen Ausgleichswerts (relativer Betrag) und 1 % der maßgeblichen monatlichen Bezugsgröße (absolute Bagatellgrenze). Diese Wesentlichkeitsgrenze der Änderung war hier überschritten, denn der Wertunterschied wegen der Mütterrente belief sich bei der Frau auf monatlich 74 DM - das waren fast 50 %. Im Ergebnis wurde der damalige Versorgungsausgleich neu berechnet - und weil die Frau inzwischen verstorben war, bekam der Mann seine Rente im Wert von monatlich 311 DM zurück.
Hinweis: Die Mütterrente wirkt sich erheblich aus, wenn die Mutter in den ersten 30 Lebensmonaten des Kindes keine versicherungspflichtigen Einkünfte hatte. Für solche Altfälle lohnt sich die Überlegung, ob man den Versorgungsausgleich deshalb neu berechnen oder rückgängig machen kann. Dabei darf der Rechtsbeistand nicht zaudern, denn die Neuberechnung wirkt sich erst ab Antragstellung bei Gericht aus, nicht rückwirkend.
Quelle: BGH, Beschl. v. 23.08.2023 - XII ZB 202/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Väter durch Leihmutterschaft: Biologische Grenzen der Fortpflanzung sind keine steuerlich absetzbare außergewöhnliche Belastung
Zwei Männer, die seit 2017 verheiratet sind, haben im selben Jahr über eine Leihmutter in den USA ein Kind bekommen, das bei ihnen in Deutschland lebt. Die erheblichen Kosten, die rund um die Zeugung des Kindes entstanden waren, wollten die Männer als außergewöhnliche Belastung bei der Einkommensteuer absetzen (§ 33 Abs. 1 Einkommensteuergesetz). Da das Finanzamt die Kosten nicht anerkannte, ging die Sache bis vor den Bundesfinanzhof (BFH).
Nach deutschem Recht war die Vorgehensweise wegen des Embryonenschutzgesetzes verboten - mit dieser Begründung verweigerte das Finanzamt, die Kosten anzuerkennen. Die Männer argumentierten, dass die Aufwendungen denen entsprechen, die jemand bei Vorliegen einer Erkrankung hat, sie seien schließlich ungewollt kinderlos geblieben. Die Zeugungs- oder Empfängisunfähigkeit gilt nach der Defintion der WHO als Erkrankung. Hinzu komme, dass der starke unerfüllte Kinderwunsch eine Depression ausgelöst habe, die mit der Zeugung des Kindes behandelt worden sei.
Den Argumenten der Männer stimmte der BFH nicht zu: Die ungewollte Kinderlosigkeit der Kläger gründe nicht auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand eines oder beider Partner, sondern auf den biologischen Gegebenheiten. Die Vorstellung, die Reproduktion eines Kindes im Wege der Ersatzmutterschaft sei als eine medizinisch indizierte Heilbehandlung zu betrachten, sei nicht mit dem Grundrecht des Kindes auf Unantastbarkeit der Menschenwürde vereinbar. Denn ein solches Verständnis würde das Kind zu einem bloßen Objekt herabwürdigen, das zur Linderung einer seelischen Krankheit des Mannes diente. Der Entschluss, eine Ersatzmutterschaft zu begründen, beruhte auch nicht auf einer rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Zwangslage, sondern auf der freiwilligen Entscheidung, ein Kind zu haben. Hinzu kam dann noch der schon vom Finanzamt genannte Grund, dass die den Aufwendungen zugrundeliegenden Maßnahmen nicht mit der deutschen Rechtsordnung im Einklang standen.
Hinweis: Aufwendungen eines gleichgeschlechtlichen (Ehe-)Paars im Zusammenhang mit einer Ersatzmutterschaft sind nicht als außergewöhnliche Belastung steuerlich zu berücksichtigen. Kosten, die der Heilbehandlung ungewollter Kinderlosigkeit dienen, sind hingegen als absetzbare Ausgaben anerkannt.
Quelle: BFH, Urt. v. 10.08.2023 - VI R 29/21(aus: Ausgabe 12/2023)
- Wunsch auf Ausweitung des Umgangs: Umgangsbegleitung durch Richterin macht Sachverständigengutachten nicht unentbehrlich
In Umgangsstreitigkeiten muss das Familiengericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen, bevor es entscheidet. Ob eine Familienrichterin bei aller Erfahrung aber auch geeignet ist, ihr Urteil auf eigene subjektive Erfahrung zu stützen, ohne in der Angelegenheit auf die Expertise von Sachverständigen zurückzugreifen, musste das Oberlandesgericht Hamm (OLG) entscheiden.
Den im Jahr 2008 geborenen schwerstbehinderten Sohn wollte der Vater alle 14 Tage am Wochenende in seiner Wohnung betreuen. Die Mutter meinte, der Vater könne dies nicht so gut wie sie und werde dem Kind deshalb schaden. Ein Gutachter beobachtete den Vater-Sohn-Kontakt, äußerste sich zu verschiedenen pflegerischen Fragen, aber nicht zum Kindeswohl - das lag außerhalb seiner Profession. Die Familienrichterin telefonierte daraufhin mit der Kinderärztin und begleitete höchstpersönlich einen Umgangskontakt zwischen Vater und Sohn. Mit dem Kind konnte sie dabei nicht kommunizieren. Anschließend bewilligte sie dem Vater auch die Übernachtungskontakte.
Mit ihrer Beschwerde beim OLG hatte die Mutter zumindest vorläufig Erfolg, denn die Akte wurde wegen Verfahrensfehlern zurück in die erste Instanz gegeben. Die Richterin hätte die angestrebte Ausweitung des Umgangs mit einem Sachverständigengutachten eines Kinder- und Jugendpsychologen prüfen lassen müssen statt durch eigene Ermittlungen. Das vorliegende Sachverständigengutachten gebe nämlich zum Kindeswohl beim Umgang nichts her, weil der Arzt sich nur zu den behinderungsbedingten und pflegerischen Fragen geäußert habe. Bei der Frage, ob die angestrebten Umgangskontakte mit dem Kindeswohl vereinbar sind, sei aber zusätzlich zu prüfen, wie sich die pflegerische Versorgung durch den Kindesvater auf den Sohn sowohl psychisch als auch gesundheitlich auswirke. Die telefonisch kontaktierte Kinderärztin verfüge nicht über die notwendige psychologisch-psychiatrische Qualifikation, das zu beurteilen. Und auch die Beobachtung des Umgangskontakts durch die Richterin könne die sachverständige Klärung nicht ersetzen.
Hinweis: Der Einschätzung von Sachverständigen kommt in Gerichtsverfahren hohe Bedeutung zu, weil die Richter ihre eigene Einschätzung nicht wichtiger nehmen dürfen als die Bewertung durch Fachleute. Hausbesuche und Umgangsbegleitung von Familienrichtern sind deshalb eine absolute Ausnahme - in diesem besonderen Fall sollten sie womöglich die Anhörung des Kindes ersetzen.
Quelle: OLG Hamm, Beschl. v. 17.10.2023 - 4 UF 89/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Zustimmungserfordernis ersatzlos entfallen: Vaterschaftsfeststellung nach Tod der Mutter auch ohne DNA-Gutachten möglich
Auch wenn das Abstammungsrecht grundsätzlich darauf abzielt, die biologische Abstammung abzubilden, räumt das Gesetz der "biologischen Wahrheit" bei der Abstammung keinen unbedingten Vorrang ein, wenn die sozialen Beziehungen so sind, dass die Beteiligten das Bedürfnis der rechtlichen Bindung zueinander haben. Was aber, wenn die Mutter schon verstorben ist und daher nicht mehr zustimmen kann, um einem Mann den Wunsch zur rechtlichen Vaterschaft zu erfüllen? Ein Fall, der bis zum Bundesgerichtshof (BGH) ging, gibt Antwort.
Ein Mann wollte im Jahr 2021 eine bereits 58 Jahre alte Frau als seine Tochter anerkennen. Er gab die entsprechende Erklärung beim Notar ab, die 58-Jährige stimmte zu. Das Standesamt verweigerte aber die Eintragung und forderte eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung mit Abstammungsgutachten. Auch zwei Gerichtsinstanzen fanden es wichtig, dass in einem solchen Fall die biologisch-genetische Abstammung tatsächlich geprüft werde.
Nicht der BGH: Durch den Tod der Mutter sei das Zustimmungserfordernis ersatzlos entfallen. Wenn das Kind zustimme - ab über 14 Jahren selbst, zuvor durch seinen gesetzlichen Vertreter -, genüge das. Bis zum Kindschaftsrechtsreformgesetz 1998 war die Zustimmung der Mutter ohnehin gar nicht vorgesehen. Das Verfahren lief früher allein zwischen dem Vater und dem Jugendamt ab. Durch die Einführung des § 1595 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch wollte der Reformgesetzgeber die Rechtsstellung der Mutter bei der Anerkennung der Vaterschaft stärken, indem er ihr ein eigenes Zustimmungsrecht einräumte. Man hatte erkannt, dass es der Mutter nicht ganz gleichgültig sein dürfte, wer rechtlicher Vater ihres Kindes ist. Stirbt diese jedoch vor der Entscheidung einer solchen Frage, erlischt auch das Zustimmungserfordernis.
Hinweis: Dass die biologische Wahrheit nicht wichtiger ist als die sozialen Beziehungen, ergibt sich auch daraus, dass ein Samenspender nicht rechtlicher Vater werden kann, wenn ein anderer Mann sozialer Vater des Kindes geworden ist und deshalb auch rechtlicher Vater sein möchte.
Quelle: BGH, Beschl. v. 30.08.2023 - XII ZB 48/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Die eingeworfenen Schlüssel: Verjährungsfrist startet mit Erhalten der Verfügungsmacht über Mietsache
Manche Beziehungen möchte man so schnell wie möglich beenden und hinter sich lassen. Ob es aber ratsam ist, für die Rückgabe einer Mietwohnung die Schlüssel einfach in den Briefkasten des Vermieters zu werfen, musste das Oberlandesgericht Hamm (OLG) klären. Der Vermieter war ganz anderer Ansicht und forderte nach dieser formlosen Beendigung des Mietverhältniss eine hohe Summe Geld.
Die Mieterin hatte eine Halle nebst Lagerbüro sowie außenliegende Stellplätze angemietet. Dann erklärte sie am 10.03.2020 die Kündigung zum nächstmöglichen Zeitpunkt - ihrer Ansicht nach der 17.06.2020. Am 18.03.2020 wies der Vermieter allerdings darauf hin, dass das Mietverhältnis durch die Kündigung erst zum 30.04.2021 enden würde. Bis zum 31.12.2020 nutzte die Mieterin das Mietobjekt weiter und warf an diesem Tag die Schlüssel in den Briefkasten des Vermieters. Der wies dieses zum einen zurück und forderte die Mieterin zum anderen auf, verursachte Schäden bis spätestens zum 19.06.2021 zu beseitigen. Schließlich forderte er nach Ablauf der Frist die Zahlung von über 47.000 EUR für Miete und Schadensersatz. Die Mieterin meinte daraufhin, die Schadensersatzansprüche seien verjährt, da sie binnen sechs Monaten nach Rückerhalt der Mietsache gerichtlich geltend zu machen sind.
Zumindest bezüglich der Schadensersatzansprüche sah dies das OLG genauso. Die Verjährung war spätestens am 08.01.2021 in Gang gesetzt worden. Erhält der Vermieter den Besitz an dem Mietobjekt durch Einwurf der Schlüssel in seinen Briefkasten zurück und behält er diese Schlüssel dann, beginnt die kurze Verjährungsfrist von sechs Monaten mit Kenntnis des Vermieters von dem Schlüsseleinwurf auch dann zu laufen, wenn das Mietverhältnis noch nicht beendet und der Vermieter nicht rücknahmebereit ist.
Hinweis: Die Berechnung der Verjährungsfrist ist für Vermieter ganz wichtig. Denn die Frist beträgt lediglich sechs Monate für Schäden am Mietobjekt. Die Frist beginnt also, wie dieser Fall zeigt, mit Erhalten der Verfügungsmacht über die Mietsache. Und das ist offensichtlich dann gegeben, wenn der Vermieter die Schlüssel bekommt - ob er will oder nicht.
Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 01.09.2023 - 30 U 195/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Mieterhöhung laut Mietspiegel: Zuschläge für Einfamilienhäuser gelten auch für Doppelhaushälften
Im folgenden Fall war die entscheidende Frage, ob Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften mehr miteinander verbindet oder mehr voneinander unterscheidet. Der Mieter einer Doppelhaushälfte und sein Vermieter waren da unterschiedlicher Meinung, so dass man sich vor dem Amtsgericht Hanau (AG) wiederfand.
Ausgangspunkt war das Mieterhöhungsbegehren für eine angemietete Doppelhaushälfte. Der Vermieter verlangte unter Bezugnahme auf den Mietspiegel eine Zustimmung zur Erhöhung der monatlichen Nettokaltmiete inklusive einem Zuschlag von 25 %, der laut Mietspiegel auf Einfamilienhäuser entfällt. Der Mieter verweigerte die Zustimmung und meinte, der Zuschlag würde bei einer Doppelhaushälfte keine Anwendung finden, da er nur für freistehende Einfamilienhäuser gelte. Schließlich forderte der Vermieter die Zustimmung zur Mieterhöhung gerichtlich ein - und gewann den Rechtsstreit.
Entgegen der Meinung des beklagten Mieters war das AG nämlich nicht der Meinung, dass ein Einfamilienhaus zwingend freistehend sein muss, um als solches zu gelten. Weist der Mietspiegel im Rahmen der Bestimmung der ortsüblichen Miete einen Zuschlag für Einfamilienhäuser aus (hier: 25 %), gilt dieser auch für Doppelhaushälften. Denn da es im Mietspiegel keinerlei Angaben zu nichtfreistehenden Einfamilienhäusern gibt, wären Doppelhaushälften (und Reihenhäuser) vom ihm gar nicht erfasst. Dies widerspricht dem Sinn eines Mietspiegels. Zudem sind die Wohnvorteile in einer Doppelhaushälfte mit denen in einem freistehenden Einfamilienhaus gleichzusetzen: kein Treppenhausverkehr von Nachbarn und Besuchern, ein höherer Gebrauchswert durch üblicherweise vorhandene Grundstücks- bzw. Gartennutzung. Dass die Freiheiten als Mieter eines freistehenden Einfamilienhauses dennoch größer seien, was Lärm oder Geruchsbelästigungen angeht, ließ das AG ebenfalls nicht gelten. Die gemeinsamen Vorteile der Einfamilienhausformen - beispielsweise das Fehlen einer in Mehrparteienanlagen üblichen Hausordnung - wiegen einfach mehr. Und wenn man, wie das Gericht, in Sachen Lärm- und Geruchsentwicklung davon ausgeht, dass die nachbarrechtlichen Rücksichtnahmepflichten stets Anwendung finden, kann hinter dieser Argumentation auch kein qualitativer Mehrwert gesehen werden.
Hinweis: Eine Mieterhöhung ist für Vermieter kein Buch mit sieben Siegeln. Es kann jedoch auch über etwas anderes nachgedacht werden: die einvernehmliche Mieterhöhung zwischen Mieter und Vermieter. Das ist häufig ein guter Gedanke. Zwar erhält der Vermieter vielleicht etwas weniger Miete, als ihm gesetzlich zustehen würde, er hat allerdings auch keine Streitigkeiten und Schwierigkeiten mit seinem Mieter.
Quelle: AG Hanau, Urt. v. 07.07.2023 - 34 C 126/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Notwegerecht durchgesetzt: Anrecht auf ordnungsgemäße Wegenutzung ohne hinderliche Pflanzsteine
Wird der einzige Weg zu einem Grundstück versperrt, ist ein Rechtsstreit vorprogrammiert. Denn egal, wobei man sich im Recht fühlt - entscheiden können dies nur die Gerichte, wie hier das Landgericht Lübeck (LG). An dieses wandte sich der Kläger gegen seine sich ebenfalls im Recht fühlende Nachbarin, nachdem diese ihm den Zugang zu seiner Parzelle verwehrte.
Dabei handelte es sich um eine Gartenparzelle als sogenanntes Inselgrundstück ohne eigene Zuwegung, das über einen Wirtschaftsweg begehbar war, dessen Ausgang auf einem fremden Grundstück verlief. Die Eigentümerin des Grundstücks, auf dem der entsprechende Wirtschaftsweg verlief, versperrte dann den Zugang mit Pflanzsteinen über die gesamte Breite des Wegs. Das wollte sich der Eigentümer der Gartenparzelle nicht bieten lassen und klagte. Er war der Ansicht, für ihn bestehe ein Notwegerecht zur Nutzung des Wegs. Die Eigentümerin des Grundstücks mit dem Weg behauptete dagegen, das Gartengrundstück würde durch den Kläger ohnehin nur genutzt, um dort Alkohol zu konsumieren.
Das LG hat die Eigentümerin dazu verurteilt, die Pflanzsteine von dem Wirtschaftsweg zu entfernen. Durch die aufgestellten Pflanzsteine wurde der Mann an seinem Notwegerecht beeinträchtigt. Ein Notwegerecht berechtigt zur ordnungsgemäßen Benutzung des Grundstücks. Dies richtet sich nach Lage, Größe und Wirtschaftsart. Gedeckt hiervon ist auch das Begehen des Notwegs mit einer Schubkarre zur Gartenbewirtschaftung, auch wenn diese beladen ist.
Hinweis: Die Durchsetzung des eigenen Rechts durch das Schaffen von Fakten ist keine gute Idee. In einem Rechtstaat führt das meist zu einem strafbaren Verhalten. Denn für die Durchsetzung des Rechts sind die Gerichte da.
Quelle: LG Lübeck, Urt. v. 18.08.2023 - 3 O 309/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Rechtsbindungswille bei Schlüsseltausch: Ohne Verwahrungsvertrag kein Schadensersatz nach Austausch von Türschloss
Blumen gießen, Post ablegen, Katze füttern - noch viele Gründe mehr sprechen dafür, vertrauenswürdigen Nachbarn für den Urlaubs- oder Notfall einen Wohnungsschlüssel zu überlassen. Was aber passiert in Fällen, in denen eben jener einst so vertrauenswürdige Mensch die Rückgabe des Schlüssels verweigert? Der Fall des Amtsgerichts München (AG) gibt Antwort.
Zwei Brüder waren Nachbarn und hatten für Notfälle Haustürschlüssel ausgetauscht. Und wie es zwischen Familienmitgliedern vorkommen kann, kam es zum Streit zwischen den beiden. Kurz vor Weihnachten forderte der eine den anderen Bruder bereits zum zweiten Mal zur Rückgabe der Schlüssel auf. Andernfalls würde er das Schloss austauschen und ihm die Kosten hierfür in Rechnung stellen. Im April wurde dann tatsächlich das Schloss ausgetauscht, Mitte Juni erhielt der Bruder vom anderen den Schlüssel zurück. Ihm sei eine frühere Rückgabe unter anderem aufgrund von Krankenhausaufenthalten nicht möglich gewesen. Die Kosten für den Austausch des Schlosses von knapp 700 EUR sollte er trotzdem erstatten - deshalb wurde geklagt.
Das AG wies die Klage jedoch ab. Die gegenseitige Aufbewahrung des Schlüssels war eine reine Gefälligkeit ohne Rechtsbindungswillen. Deshalb hatten die beiden Brüder auch keinen Verwahrungsvertrag geschlossen. Ohne den Abschluss eines entsprechenden Vertrags gibt es in der Folge auch keinen Schadensersatz.
Hinweis: Mieter und Eigentümer sollten sich gut überlegen, wem sie einen Schlüssel der Wohnung oder des Hauses für den Notfall übergeben. Es sollte stets klargestellt werden, dass der Schlüssel nicht ohne ausdrückliches Einverständnis benutzt werden darf.
Quelle: AG München, Urt. v. 19.07.2023 - 222 C 14447/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Untervermietung der Einzimmerwohnung: Korrekte Teilüberlassung, sobald Mieter den Gewahrsam am Wohnraum nicht gänzlich aufgibt
Mieter dürfen in aller Regel untervermieten, nachdem sie ihren Vermieter um eine entsprechende Genehmigung gebeten haben. Eine Untervermietung einer Einzimmerwohnung erscheint auf den ersten Blick zwar unsinnig, was auch der beklagte Vermieter in diesem Fall so sah. Der Bundesgerichtshof (BGH) warf jedoch einen Blick mehr auf die Details des mieterseitigen Ansinnens und befand in der Folge, dass ein solches unter ganz bestimmten Voraussetzungen durchaus nachvollziehbar sein kann.
Ein Mieter hatte eine Einzimmerwohnung gemietet. Dann bat er seine Vermieter wegen eines beruflichen Auslandsaufenthalts um die Gestattung der Untervermietung für rund anderthalb Jahre. Er benannte auch die bestimmte Person, die als Untermieter einziehen sollte. Die Vermieter lehnten die Bitte jedoch ab, und der Mieter erhob eine Klage auf Erlaubnis der Untervermietung eines Teils der Wohnung. Er trug vor, er wolle für die Dauer seiner berufsbedingten Abwesenheit einen Teil der Wohnung an die benannte Person untervermieten, jedoch persönliche Gegenstände weiterhin in der Wohnung lagern. Tatsächlich blieben persönliche Gegenstände in einem Schrank und einer Kommode sowie in einem am Ende des Flurs gelegenen und durch einen Vorhang abgetrennten Bereich. Außerdem bliebe der Mieter im Besitz eines Wohnungsschlüssels. Deshalb gewann er die Klage.
Ein Anspruch des Mieters auf Gestattung der Gebrauchsüberlassung an einen Dritten kann auch im Fall einer Einzimmerwohnung gegeben sein. Die Vorschrift stelle in Augen des BGH weder quantitative Vorgaben hinsichtlich des beim Mieter verbleibenden Anteils des Wohnraums noch qualitative Anforderungen zu dessen weiterer Nutzung durch den Mieter auf. Von einer Überlassung eines Teils des Wohnraums an einen Dritten ist daher regelmäßig bereits dann auszugehen, wenn der Mieter den Gewahrsam an dem Wohnraum nicht vollständig aufgibt, wie hier geschehen.
Hinweis: Mieter sollten vor einer Untervermietung stets den Vermieter um Zustimmung bitten. In aller Regel wird der Vermieter dagegen nichts einwenden können.
Quelle: BGH, Urt. v. 13.09.2023 - VIII ZR 109/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Grüne Fußgängerampel: Zugmaschine hat selbst als "Kreuzungsräumer" bei sich auflösendem Stau keine Vorfahrt
Wer zugunsten des (wieder) fließenden Verlehrs nach einem Stau die Kreuzung räumen möchte, sollte stets gewährleisten, niemanden zu gefährden - egal, wie lang man bereits darauf gewartet hat, weiterfahren zu können. Sonst landet man schnell vor dem Verkehrsgericht, so wie der Lastwagenfahrer in diesem Fall sich vor dem Landgericht Lübeck (LG) wiederfand.
Die 85-jährige Klägerin stand an einer Ampel und wartete darauf, die Straße überqueren zu können, auf der so viele Autos unterwegs waren, dass es zu einem Stau kam. Der beklagte Lastwagenfahrer schaffte es dabei nicht mehr über die Kreuzung und wartete vor dem Fußgängerüberweg. Als die Fußgängerampel auf grün sprang, löste sich gleichzeitig der Stau auf. Es kam, wie es kommen musste: Die Klägerin ging los, während der Lastwagen anfuhr, sie überrollte und schwer verletzte. Vor dem LG klagte sie unter anderem auf eine weitere Schmerzensgeldzahlung. Die beklagte Versicherung des Lastwagenfahrers hatte eingewendet, die Frau hätte nicht über die Straße gehen dürfen und stattdessen den Lastwagen als sogenannten "Kreuzungsräumer" durchfahren lassen müssen.
Die Klage der Fußgängerin war überwiegend begründet. Das LG verurteilte die Beklagte daher zu weiterem Schmerzensgeld. Die Haftung des Lkw-Fahrers ergebe sich aus dem vom Gericht festgestellten Unfallgeschehen. Die Klägerin durfte über die Fahrbahn gehen, denn der Lastwagen hatte als Kreuzungsräumer keine Vorfahrt. Die Klägerin hätte sich zwar durchaus vergewissern müssen, dass der Lastwagen vor dem Fußgängerüberweg stehen bleibt, als sich der Stau auflöste. Trotz grüner Fußgängerampel hätte sie nicht sofort losgehen dürfen. Dennoch müsse sie sich laut LG aber kein Mitverschulden anrechnen lassen. Denn den Lastwagenfahrer träfe ein so schweres Verschulden, dass er allein haftet. Seinerseits sei zwar eine erhöhte Betriebsgefahr aufgrund der eingeschränkten bzw. fehlenden Sicht sowie des größeren Verletzungspotentials durch den Lkw nebst Anhänger zu berücksichtigen - dennoch wog sein Verschulden schwer. Das Gericht geht nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Fahrer der Zugmaschine unmittelbar vor der Fußgängerfurt zum Stehen kam und die Furt bewusst für mögliche querende Fußgänger frei ließ. Die wartende Klägerin hätte der beklagte Lkw-Fahrer nach Auffassung des Gerichts wahrnehmen können, er sei aber aus Unachtsamkeit bei Auflösen des Staus dennoch angefahren, als die Ampel für die Klägerin bereits grün zeigte.
Hinweis: Auch der Hinweis, der Lkw-Fahrer habe die Klägerin aus seiner Führerkabine gar nicht sehen können, überzeugte das LG nicht. Er hätte sich viemehr vor dem Anfahren vergewissern müssen, dass er niemanden gefährdet - notfalls aussteigen oder sich von anderen zur Weiterfahrt einweisen lassen müssen, und zwar auch, wenn er mit der Zugmaschine die Fußgängerfurt bereits durchfahren hatte. Mit dem Überqueren der Straße durch andere Verkehrsteilnehmer muss ein Kraftfahrzeugführer rechnen, nachdem sein Fahrzeug wegen stockenden Verkehrs dort zum Halten gekommen ist - erst recht im Bereich einer Fußgängerampel.
Quelle: LG Lübeck, Urt. v. 29.09.2023 - 3 O 336/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Kein unvermeidbarer Verbotsirrtum: Mercedes haftet nach Einbau einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung
Beim Thema "Abschalteinrichtung" ist noch lange nicht alles ausgeurteilt. Das beweist auch der Fall des Oberlandesgerichts Stuttgart (OLG), bei dem es nicht etwa um geschönte Dieselabgaswerte, sondern um die sogenannte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) ging. Die zentrale Frage hierbei war, ob bei der KSR wie beim Thermofenster eine Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz durch den Hersteller deswegen entfällt, weil dieser sich auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen kann.
Eine solche Unvermeidbarkeit liegt dann vor, wenn der Hersteller auch bei äußerster Gewissensanspannung nicht hätte erkennen können, dass er Unrecht verwirklicht. Bei Zweifeln müsse sich der Hersteller bei einer fachkundigen und zuverlässigen Stelle erkundigen. Und hier spielte das Kraftfahrt-Bundesamt den Herstellern in die Karten, das die herstellerübergreifend in Dieselfahrzeugen zum Einsatz gekommenen Thermofenster nach jahrelanger Kenntnis und Genehmigungspraxis bis ins Jahr 2020 nicht beanstandet hatte. Bei der KSR verhielt es sich nach Ansicht des OLG jedoch anders.
Hier sah der Senat ein schuldhaftes Verhalten der Beklagten, die den Einbau der KSR auch gar nicht erst bestritt. Das Gericht war der Überzeugung, dass sich die für die Beklagte handelnden Personen in keinem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden hatten. Seine Überzeugung stützte der Senat dabei auch darauf, dass das Kraftfahrt-Bundesamt hierzu keine derartige Kenntnis und Genehmigungspraxis habe walten lassen wie beim Thermofenster. Einen beachtlichen Rechtsirrtum über die Zulässigkeit der KSR habe die Beklagte auch nicht dargelegt, zumal sich diese hinsichtlich der KSR auch nicht auf einen vergleichbaren Vertrauenstatbestand wie beim Thermofenster stützen konnte.
Hinweis: Das OLG hat unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (vom 21.03.2023 - C-100/21) sowie des Bundesgerichtshofs (vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22) daher entschieden, dass dem Kläger ein Schadensersatzanspruch zusteht (aus § 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung).
Quelle: OLG Stuttgart, Urt. v. 19.10.2023 - 24 U 103/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Keine Datenlöschung: HIS-Eintrag der fiktiven Abrechnung bleibt auch nach später erfolgter Reparatur bestehen
Bei fiktiver Abrechnung eines Fahrzeugschadens über 1.500 EUR ist die Kaskoversicherung berechtigt, die Vornahme der fiktiven Abrechnung als Meldegrund an das Hinweis- und Informationssystem der Versicherungswirtschaft (HIS) zu melden. Welche Voraussetzung genügt, um dort zum Zweck der Aufdeckung bzw. Prävention von Versicherungsbetrug und -missbrauch registriert zu werden, war die Frage im Fall des Amtsgerichts München (AG).
Der Kläger erlitt mit seinem Fahrzeug, das bei der beklagten Versicherung versichert ist, einen Schaden. Die Beklagte bearbeitete und regulierte den Schaden als eintrittspflichtige Versicherung aufgrund eines vom Kläger vorgelegten Kostenvoranschlags. Die kalkulierten Reparaturkosten betrugen ohne Mehrwertsteuer etwa 3.300 EUR. Anschließend gab die Beklagte den Schadensfall an das HIS weiter (Höhe des entstandenen Schadens und die Fahrzeugidentifikationsnummer des betroffenen Kfz). Der Kläger behauptet, die dortige Eintragungen seien falsch, da sein Fahrzeug repariert worden sei und insofern keine fiktive Abrechnung des Schadens mehr vorliege.
Das AG hat die Klage dennoch abgewiesen. Entgegen der Auffassung des Klägers liegt keine unrichtige Eintragung im HIS und damit auch keine unrechtmäßige Verarbeitung der Daten vor. Das Gericht sah es als ausreichend nachgewiesen an, dass der streitgegenständliche Schaden am Klägerfahrzeug von der Beklagten aufgrund einer fiktiven Abrechnung reguliert wurde. Anhand des klägerseitig eingereichten Kostenvoranschlags hat die Beklagte den Schaden reguliert und dem Kläger die ermittelten Reparaturkosten netto erstattet. Auch wenn der Kläger anschließend sein Fahrzeug tatsächlich repariert haben sollte, ändert dies an der zunächst vorgenommenen fiktiven Abrechnung durch die Beklagte nichts. Es wurde auch nicht vorgetragen, dass der Kläger nachträglich seine Abrechnungsmodalität umgestellt hätte und nunmehr anhand konkret angefallener Reparaturkosten abgerechnet hätte.
Hinweis: Gemäß Art. 17 Abs. 1 Buchst. d) Datenschutz-Grundverordnung sind personenbezogene Daten zu löschen, sofern die personenbezogenen Daten unrechtmäßig verarbeitet wurden. Hier lag aber keine unrechtmäßige Verarbeitung der Daten vor. Seitens der Versicherungswirtschaft besteht ein Interesse daran, Versicherungsmissbrauch bei der mehrfachen Abrechnung im Fall fiktiver Schadensberechnung zu verhindern. Durch die Speicherung der Daten kann die Aufdeckung missbräuchlichen Verhaltens durch eine wiederholte Geltendmachung desselben Schadens an einem Fahrzeug erleichtert werden.
Quelle: AG München, Urt. v. 26.07.2023 - 322 C 3109/23 (2)(aus: Ausgabe 12/2023)
- Mietwagenkostenrückerstattung: Laien dürfen sich auf Einschätzung des Privatgutachters hinsichtlich Notreparatur verlassen
Wenn ein Privatgutachter zur Einschätzung kommt, dass die Notreparatur eines Unfallfahrzeugs unwirtschaftlich ist, sollte sich ein Laie doch darauf verlassen und einen Mietwagen beschaffen dürfen - oder etwa nicht? Weil die Frage der Verhältnismäßigkeit offensichtlich nicht so klar war, ging sie in Sachen Kostenerstattung für den Mietwagen vom Landgericht Hannover (LG) schließlich bis zum Oberlandesgericht Celle (OLG).
In dem zugrundeliegenden Fall klagte die Geschädigte eines Verkehrsunfalls vor dem LG auf Erstattung der Mietwagenkosten. Sie hatte sich bis zur Reparatur des verunfallten Fahrzeugs einen Mietwagen beschafft, und der von ihr beauftragte Privatgutachter kam zur Einschätzung, dass eine Notreparatur des Fahrzeugs unwirtschaftlich sei. Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hatte hingegen die Notreparatur für durchaus wirtschaftlich erachtet. Das LG wies die Klage der Klägerin daher ab - weiter ging es mit Berufung der Klägerin zum OLG.
Das OLG entschied schließlich zugunsten der Klägerin. Ihr stehe ein Anspruch auf Erstattung der Mietwagenkosten zu. Ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht sei der Klägerin nicht anzulasten. Sie hätte keine Notreparatur ihres Fahrzeugs veranlassen müssen. Sie habe der plausiblen und nachvollziehbaren Einschätzung des von ihr beauftragten Sachverständigen folgen dürfen. Für die Klägerin als Laiin sei die Einschätzung der Wirtschaftlichkeit einer Notreparatur nicht erkennbar gewesen.
Hinweis: Der vom LG beauftragte Sachverständige hat - entgegen den privatgutachterlichen Feststellungen - dargelegt, dass er eine Notreparatur für möglich und wirtschaftlich erachtet hätte. Er hat in seiner persönlichen Anhörung aber auch bekundet, dass der Privatgutachter die Wirtschaftlichkeit bzw. Möglichkeit einer Notreparatur nicht hätte erkennen können, weil dieser - unterstellt - keinen Zugriff auf das VW-Bestellsystem gehabt habe. Ebenso hätte die Geschädigte als Laiin nicht die Möglichkeit einer Notreparatur erkennen können.
Quelle: OLG Celle, Urt. v. 13.09.2023 - 14 U 19/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Traktor als Hindernis: Haftungsverteilung nach Überholunfall zweier Fahrzeuge einer Kolonne
Überholen darf ein Fahrzeugführer stets nur dann, wenn er eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vollständig ausschließen kann. Und so hinderlich und ärgerlich eine Kolonne auch sein mag, die sich beispielsweise hinter einem langsamen Verkehrsteilnehmer bildet: Ob sie automatisch eine "unklare Verkehrslage" darstellt oder ob man sie sehr wohl überholen darf, musste das Landgericht Lübeck (LG) hier klären.
Auf einer Landstraße hatte sich hinter einem Traktor eine Kolonne gebildet. Ganz am Ende der Kolonne fuhr der Kläger. Vor ihm fuhren zwei weitere Autos. Nachdem ein Überholverbot endete, begann der Kläger, von hinten die Kolonne links zu überholen. Als er sich auf Höhe des Wagens direkt hinter dem Traktor befand, scherte plötzlich dessen Fahrerin ebenfalls zum Überholen aus. Der Kläger versuchte, noch auszuweichen, aber schrammte bei diesem Manöver mit seinem Auto den Traktor entlang. Wer war hieran nun schuld? Der Kläger, der als Letzter mit dem Überholvorgang begann, obwohl er dabei die längste Überholstrecke zu überwinden hatte? Oder die ausscherende Fahrerin, die sich direkt hinter dem hinderlichen Traktor befand? Oder gar beide?
Das LG sah das ganz klar: Haften müssen hier beide. Die ausscherende Fahrerin hätte nur dann überholen dürfen, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen wäre. Der Umstand, dass es überhaupt zu dem Unfall und zum Zusammentreffen vor dem LG gekommen sei, spräche dafür, dass die Frau eben nicht gut genug aufgepasst hatte. Der Kläger hatte die Kolonne grundsätzlich überholen dürfen. Zwar gelte die Regel, dass bei "unklarer Verkehrslage" nicht überholt werden dürfe - nicht jede Kolonne sei aber per se eine "unklare Verkehrslage". Es hätten im Prozess keinerlei Umstände festgestellt werden können, die gegen seinen Überholversuch sprachen. Und dennoch muss sich der Kläger an dem Schaden beteiligen. Schließlich sei auch für ihn der Unfall nicht völlig unvermeidbar gewesen. Denn selbst, wenn das Überholen einer Kolonne nicht verboten sei, hätte ein "Idealfahrer" dies angesichts der damit verbundenen Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen. Die generelle Haftung eines Autofahrers (die sogenannte "Betriebsgefahr") entfalle daher nicht völlig. Somit musste sich der Mann eine 20%ige Mitschuld zurechnen lassen.
Hinweis: Eine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 Straßenverkehrs-Ordnung liegt vor, wenn der Überholende nach den objektiv gegebenen Umständen nicht mit einem ungefährlichen Überholvorgang rechnen darf. Allein eine Verringerung der Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs reicht hierfür in der Regel nicht aus.
Quelle: LG Lübeck, Urt. v. 28.07.2023 - 9 O 27/21(aus: Ausgabe 12/2023)
- Angstgefühl allein unzureichend: Kein Schadensersatz nach Facebook-Scraping ohne Darlegung konkret-individueller Betroffenheit
Bei einem sogenannten Scraping werden Daten von Websites automatisiert ausgelesen. Ein solches Auslesen kann sowohl autorisiert als auch rechtswidrig erfolgen. Im Fall des Oberlandesgerichts Hamm (OLG) verklagte eine Facebooknutzerin den Meta-Konzern nach einer unautorisierten Auslesung ihrer Daten auf Schadensersatz. Doch ob und wie der erlittene Schaden zu bewerten war, ist fraglich.
Im April 2021 veröffentlichten Unbekannte die Daten von etwa 500 Millionen Facebooknutzern im Darknet, darunter Namen und Telefonnummern. Die Daten hatten die Unbekannten zuvor über einen längeren Zeitraum zunächst unter Ausnutzung der seinerzeitigen Suchfunktionen von Facebook gesammelt. Auch wenn die Anzeige der eigenen Telefonnummer bei Facebook nicht aktiviert war, war es über die Suchfunktion möglich, einen Nutzer über eine eingegebene Telefonnummer zu identifizieren. Dies nutzen die Unbekannten aus, indem sie millionenfach Telefonnummern mit dem Computer generierten und hierzu Daten abriefen. Facebook deaktivierte die Suchfunktion für Telefonnummern im April 2018. Wegen dieses Datenlecks wurden zahlreiche Klagen gegen Meta als Betreiberin der Plattform eingereicht. Auch die Frau dieses Verfahrens war betroffen. In dem im Darknet veröffentlichten Datensatz fanden sich ihre Mobiltelefonnummer, ihr Vor- und Nachname sowie die Angabe ihres Geschlechts. Deshalb verlangte sie mindestens 1.000 EUR Schmerzensgeld.
Das OLG hat die Klage auf Zahlung von Schadensersatz nach der Datenschutz-Grundverordnung abgewiesen. Nach dem Urteil lagen zwar eindeutige Verstöße gegen datenschutzrechtliche Vorschriften vor, einen immateriellen Schaden konnte die Frau jedoch nicht ausreichend darlegen. Der zu einer Vielzahl an ähnlich gelagerten Verfahren identische, pauschale Vortrag, die "Klägerpartei" habe Gefühle eines Kontrollverlusts, eines Beobachtetwerdens und einer Hilflosigkeit - insgesamt also das Gefühl der Angst - entwickelt und Aufwand an Zeit und Mühe gehabt, reichte zur Darlegung einer konkret-individuellen Betroffenheit nicht aus.
Hinweis: Das OLG hat mit diesem Urteil eine Leitentscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren getroffen. Andere Kläger müssen nun darstellen, welchen Schaden sie materiell und/oder immateriell erlitten haben.
Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 15.08.2023 - 7 U 19/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Anzeigenschaltung reicht nicht: Werbung mit Bekanntheits-Angabe darf sich nur auf redaktionelle Berichterstattung beziehen
Werbeanzeigen werden von Medien strikt getrennt von redaktionellen Inhalten behandelt. So kann sich ein Verlag nicht vorwerfen lassen, gute Anzeigenkunden mit redaktionellen Inhalten zu bauchpinseln. Im Folgenden musste das Oberlandesgericht Hamburg (OLG) genau diesen Trennstrich bei der Wahrnehmung ziehen. Denn hier nutzte ein Unternehmen seine Anzeigenaktivitäten für eine "bekannt aus ...!"-Aussage, die redaktionelle Berichterstattungen der genannten Medien nahelegte.
Die Firma bot auf ihrer Internetseite die Vermittlung von Immobilienverkäufern an Immobilienmakler an. Die Firma hatte auf ihrer Website geworben mit dem Hinweis "Bekannt aus: Die Welt, ONLINE FOCUS, Frankfurter Allgemeine, N24, Der Tagesspiegel", ohne dazu Fundstellen anzugeben oder zu verlinken. Ein Wettbewerbsverband sah die Werbung der Firma als unlauter an. Schließlich verklagte der Wettbewerbsverband die Firma auf Unterlassung.
Die Meinung des Verbands teilte das OLG. Denn wirbt ein Unternehmen mit seiner Bekanntheit aus namentlich genannten und bekannten Medien, geht der Verbraucher natürlich auch davon aus, dass die Bekanntheit aus einer redaktionellen Berichterstattung resultiert - nicht jedoch aus in den Medien geschalteter Werbung.
Hinweis: Auch in der Werbung darf nicht ohne weiteres gelogen oder übertrieben werden - hierbei steht der Schutz der Verbraucher im Vordergrund.
Quelle: OLG Hamburg, Urt. v. 21.09.2023 - 15 U 108/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Gesamtkontext entscheidet: Wann "Dame vom Escortservice" nicht als Beleidigung aufgefasst werden sollte
Was Satire darf und was nicht, ist seit geraumer Zeit eine breit diskutierte Frage, die nicht final beantwortet werden kann. Mit einer möglichen Beantwortung sah sich das Oberlandesgericht Dresden (OLG) durch die Klage einer Frau beauftragt, die sich durch einen veröffentlichten Artikel verunglimpft sah. Und da es wie immer auf den Einzelfall ankommt - was einer allgemeingültigen Beantwortung eben auch entgegensteht -, spielt der gesamte Kontext hier die entscheidende Rolle.
Eine Rechtsanwältin hatte einen Mann in einer Verkehrssache vertreten. Über diese Verhandlung veröffentlichte der Mann einen Artikel. Die Rechtsanwältin meinte nun, durch verschiedene Äußerungen im Artikel schwerwiegend in ihrem Persönlichkeitsrecht und ihrer Würde als Organ der Rechtspflege verletzt worden zu sein. Sie verlangte eine Geldentschädigung in Höhe von mindestens 10.000 EUR. Das Geld erhielt sie allerdings nicht - es lag keine Persönlichkeitsrechtsverletzung vor.
Das OLG wertete den Artikel als satirisch angelegte Glosse über eine Gerichtsverhandlung. Der Mann hatte etwas von gängigen Klischees über die Justiz geschrieben, wie "Treppen und Flure wie aus Soko Leipzig" und "Tatort", "Vergitterte Fenster" und "wartete die Zeit, die der Amtsschimmel durchtraben musste". Und in exakt diesen Kontext reihte sich die ebenfalls klischeehafte Beschreibung der Rechtsanwältin ein, der ein "filmreifer Auftritt" bescheinigt wurde, bei dem sie mit "Gesetzen und Paragrafen abrufbereit angefüllt" gewesen sei. Auch beim Vergleich des Erscheinungsbilds der Rechtsanwältin im Gerichtssaal mit dem Auftreten einer "Dame vom Escortservice" handelte es sich nicht etwa um die Behauptung, die Rechtsanwältin selbst übe einen solchen Beruf aus oder biete sexuelle Dienstleistungen an. Vielmehr handelte es sich hierbei erkennbar um Satire.
Hinweis: Auch bei der Satire gibt es natürlich Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Eine solche Grenzüberschreitung lag in diesem Fall noch nicht vor.
Quelle: OLG Dresden, Urt. v. 04.09.2023 - 4 U 1126/23(aus: Ausgabe 12/2023)
- Onlinecasino aus Malta: Anbieter muss nach Verstoß gegen Glückspielstaatsvertrag Verluste zurückerstatten
Manchmal hat man Glück, und das Gesetz ist ganz plötzlich die Rettung aus einer selbstverursachten Misere - so wie im folgenden Fall für eine dem Glücksspiel etwas zu stark zugetane Frau vor dem Landgericht Koblenz (LG). Und das Glück, das sie vergeblich online suchte, war ihr im "real life" nun vor Gericht in Form von 632.250 EUR hold.
In den Jahren 2015 bis 2020 verlor die Spielerin das Geld in einem Online-Casino eines führenden Onlineglücksspielanbieters aus Malta. Und für Malta verfügte der Anbieter auch über die erforderliche Glücksspiellizenz der zuständigen Glücksspielbehörde. Über eine entsprechende Glücksspiellizenz für Deutschland oder für das Bundesland Rheinland-Pfalz, in dem die Frau wohnt, verfügte der Anbieter jedoch nicht. Genau deshalb meinte die Spielerin nun, einen Rückzahlungsanspruch für die 632.250 EUR zu haben, denn zu der Zeit, in der sie gespielt hatte, gab es ein gesetzliches Verbot von Onlineglücksspielen. Und da sie davon erst im Jahr 2022 erfahren habe, seien die möglichen Rückzahlungsansprüche nicht verjährt. Schließlich klagte sie und bekam vor dem LG Recht.
Der zwischen den Parteien geschlossene Onlineglücksspielvertrag verstieß im streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich gegen ein gesetzliches Verbot und war daher nichtig. Zwar wurde der Glückspielstaatsvertrag im Jahr 2021 neu geregelt und es besteht nunmehr die Möglichkeit, eine Erlaubnis für öffentliche Glückspiele im Internet zu erhalten. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage des Gesetzesverstoßes war vorliegend aber der Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts, so dass es auf die Frage einer etwaigen späteren Legalisierung des Angebots nicht ankam.
Hinweis: Wer spielt, kann auch verlieren. Das gilt erst recht für die Teilnahme am Glücksspiel. Spannend wäre es zu erfahren, ob im Umkehrschluss das Onlinecasino auch Gewinne von Spielern wegen unwirksamer Verträge zurückfordern kann.
Quelle: LG Koblenz, Urt. v. 24.07.2023 - 1 O 224/22(aus: Ausgabe 12/2023)
- Schadensersatz nach Diebstahl: Kliniken haben besondere Obhutspflicht für persönliche Habe von Patienten
Wer als Notfall ins Krankenhaus kommt, kann häufig nicht mehr auf seine persönlichen Gegenstände aufpassen. Wer in solchen Fällen dafür zuständig ist, dass im Optimalfall Patienten und deren persönliche Habe wohlbehalten wieder aus den Kliniken herauskommen, musste im folgenden Fall das Oberlandesgericht Hamm (OLG) klären.
Eine 95-Jährige hatte in Begleitung ihrer Haushaltshilfe wegen Atembeschwerden ihre Hausärztin aufgesucht. Nachdem ihr Blutdruck gemessen und ein EKG geschrieben worden war, wurde sie auf Veranlassung der Ärztin mit einem Rettungswagen in die Notaufnahme eines Klinikums verbracht. Bei ihrer dortigen Aufnahme war die Klägerin zumindest mit Leibwäsche, einem Wollpullover, einer Stoffhose und Lederschuhen bekleidet. Im weiteren Verlauf wurde sie liegend zu einer Röntgenuntersuchung, anschließend wieder zurück in die Notaufnahme und von dort aus nach Abschluss der Untersuchungen auf die Station verbracht. Mehrere mit einem Namensaufkleber der Frau versehene Tüten für Patienteneigentum, die zu einem nicht näher aufklärbaren Zeitpunkt der Untersuchungen existierten und deren Inhalt zwischen den Parteien streitig blieb, haben dies leider nicht geschafft. Sie blieben verschollen. Einen Tag später schlossen die Parteien dann einen schriftlichen Behandlungsvertrag, der auch eine Haftungsbeschränkung für Sachen beinhaltete. Trotzdem verlangte die Frau Schadensersatz für die Kleidung und Gegenstände, die abhandengekommen waren. Es handelte sich um eine Brille mit einem Zeitwert von 1.400 EUR und Hörgeräte mit einem Zeitwert von 2.799 EUR. Als die Klinik das Geld nicht ersetzen wollte, klagte die Patientin.
Hätte die Klinik besser bezahlt - denn vom OLG erhielt die alte Dame insgesamt 5.106 EUR zugesprochen. Es bestand eine besondere Obhutspflicht der Klinik für die persönliche Habe der Patienten. Die Klinik hat bei einer Notaufnahme die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um die persönlichen Gegenstände der Patienten zu sichern.
Hinweis: Krankenhäuser müssen dringend überlegen, wie sie in Zeiten starker Personalknappheit künftig ihrer besonderen Obhutspflicht nachkommen können.
Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 21.07.2023 - 26 U 4/23(aus: Ausgabe 12/2023)